Die Ratte kommt. Lydia Drosberg
spielte das Schneewittchen selbst weiter. Eleonora nahm den Apfel, biss in die rote Hälfte und schmiss sich in den Dreck. Jedes Mal, wenn meine Schwestern die Geschichte erzählen, wird sie immer lustiger.
Eine Zeit lang schlichen sie sich sogar raus und trieben sich mit Herolds rum. Einmal wollten sie sich ein Süppchen kochen. Sie sammelten alles zusammen: einen Topf, Wasser, Holz, Kartoffeln und Gemüse. Nur mit den Streichhölzern wurde es ein wenig schwierig. „Bei uns raucht niemand. Wir besitzen nur einen eisernen Gasanzünder“, meinte Annedore. Bei Herolds rauchten beide Elternteile, da würde es nicht auffallen, wenn sie eine Schachtel Streichhölzer wegnahmen.
Damit niemand sie bei ihrem Vorhaben entdeckt, beschlossen sie, mitten im Kornfeld ein Feuerchen zu machen. „Das wird lustig“, meinte Arne. „Dazu brauchen wir nur noch ein paar große Steine.“
Die wurden schnell herbeigeschafft. Jeder schnappte sich etwas, das man zum Kochen einer Suppe braucht und sie schlichen sich hintereinander ins Kornfeld.
„Da, die Stelle ist gut“, sagte Arne und stapelte die Steine zu einer Kochstelle aufeinander. Da hinein legten sie kleine Holzscheite und Stroh. Der Topf mit dem Wasser wurde auf die Feuerstelle gestellt und das Gemüse reingelegt.
„He, wer hat die Streichhölzer?“, fragte Barbara.
„Ich“, sagte Senta und gab sie ihr in die Hand.
„Die sind ja ganz nass und stinken nach Bier, wo hast du die denn her?“, fragte Barbara.
„Aus der Wohnstube“, sagte Senta.
Barbara nahm ein Streichholz aus der Schachtel und zog es über die Reibefläche. Nichts passierte. Sie versuchte es noch einmal. Kein Funken!
Arne riss ihr die Streichhölzer aus der Hand: „Stell dich nicht so doof an!“ Er versuchte es ebenfalls. Das Streichholz fing Feuer, ging aber gleich wieder aus. Er versuchte es immer schneller und ehrgeiziger. Arne schaute die Streichhölzer an, als würden sie sich durch blanke Willenskraft entzünden. Beim letzten Streichholz hielten alle die Luft an. Es brannte und er führte es langsam zu den Holzscheiten. Alle stöhnten laut auf, als es wieder ausging. Vor Wut schmiss Arne die leere Streichholzschachtel in den Dreck.
„Das war es, jetzt können wir alles wieder einpacken und nach Hause gehen!“, schrie Arne wütend.
„Krieg dich wieder ein“, sagte Barbara barsch.
„Ist doch wahr“, entschuldigte sich Arne halbherzig. Doch vorher musste er noch dem selbstgebauten Ofen einen ordentlichen Tritt versetzen, damit seine Wut verfliegen konnte. Dann zogen alle enttäuscht von dannen.
Erst viel später begriffen meine Schwestern, was sie damals für ein Glück gehabt hatten, dass die Streichhölzer nicht zündeten. Ja, mehr Glück als Verstand. Zu dem besagten Zeitpunkt war das Korn sehr trocken und überreif. Es hätte lichterloh brennen können und die Kinder vielleicht noch mit.
Aber ansonsten haben sich meine Schwestern an Mittwochabenden köstlich amüsiert!
Ich dagegen sitze, wenn ich allein zu Hause bin, ängstlich unterm Tisch und erwarte sehnsüchtig den Augenblick, an dem meine Familie wieder nach Hause kommt.
Heute läuft ein Mann dreimal an unserem Fenster vorbei. Plötzlich presst er sein Gesicht ganz dicht an die Scheibe, um in das Fenster des Zimmers zu gucken, in dem ich gerade unterm Tisch sitze. Scheinbar sieht er nichts und haut wieder ab. Ich mache mir aber fast in die Hosen vor Angst.
UNSERE UNTERMIETER
Wir besitzen unser Haus nicht für uns allein. In der oberen Etage wohnen Untermieter. Mutti muss ihnen immer frisches Wasser zum Waschen hinstellen. Manchmal bittet sie Annedore, das zu tun. Anne hasst diese Arbeit, besonders wenn die Untermieter ihr dabei auf die Finger schauen. Ich war auch schon mal da oben. Pfui Teufel, wie das da riecht! Mutti reißt immer gleich, wenn sie oben ist, die Fenster auf. Natürlich nur, wenn die Untermieter nicht in der Nähe sind. Der Gestank ist wirklich bestialisch, so nach kaltem Zigarettenrauch, Schweiß und Alkohol. Der eine Untermieter riecht besonders unangenehm und glotzt einen mit so glasigen Augen an.
Iris übernachtet mal ohne unser Wissen bei einem dieser Untermieter. Am Morgen klingelt es Sturm. Anne öffnet die Tür. Vor der Tür steht Iris’ Bruder und fordert, dass seine Schwester sofort nach Hause kommen soll. Iris hört das Tamtam und kommt schnell runter. Ehe sich Anne versieht, donnert der Bruder Iris eine mitten ins Gesicht, dass ihr die Schneidezähne schief nach vorne stehen. Iris rennt mit blutendem Mund nach Hause und Anne schaut ihr entsetzt hinterher., Mann, dass sie bei dem Untermieter übernachtet hat, ist ja nicht gerade schön, aber ihr so eine reinzuhauen, ist ja total verrückt’, denkt meine Schwester.
Annedore verliebt sich ebenfalls in einen unserer Untermieter. Dabei ist sie erst zwölf und für ihr Alter ziemlich zart. Uta Lenor dagegen sieht da schon ganz anders aus. Sie kommt uns jetzt öfter besuchen und gibt vor, wegen Annedore da zu sein. Was Annedore natürlich nicht glaubt. Sie sagt: „Von wegen, die will doch nur unseren Untermieter sehen.“
Zu Annes 13. Geburtstag schenkt Suhl, besagter Untermieter, ihr Rollschuhe, denn er mag Annedore sehr, aber nicht als Freundin, sondern eher als kleine Schwester. Utas Reizen hingegen kann er sich nicht so ganz entziehen.
Uta und Annedore sitzen in der Küche und Uta sagt mit großen, ehrlichen Augen: „Ich will dir Suhl auf keinen Fall wegnehmen.“
Wenn die drei zusammen sind, sieht das aber ganz anders aus. Suhl streichelt Uta zärtlich durchs Haar und sie gibt vielsagende Blicke zurück. Was soll Annedore da machen, Uta ist wesentlich weiter entwickelt als sie. Anne kann schon verstehen, warum sich Suhl mehr für Uta interessiert. Trotzdem ist sie stinksauer auf ihre vermeintliche Freundin. „Die hat bei mir bis in alle Ewigkeit verschissen“, meint Annedore und will sie nie wiedersehen.
Frau Lenor ist erst Feuer und Flamme und außerdem stolz auf ihre Tochter, dass die sich trotz ihres jungen Alters so einen feschen jungen Mann geangelt hat. Doch dann wird es ihr zu heiß und sie unterbindet das Techtelmechtel der beiden. So bekommt keiner den schönen Hans-Jürgen Suhl.
Mutti ist in Hans-Jürgen auch vernarrt. Sie sieht ihn als Sohn, den sie nie hatte. Und Suhl entwickelt ein starkes Vertrauensverhältnis zu ihr. So kann er ihr unter anderem anvertrauen, dass er vorhat, in den Westen abzuhauen. Da muss sie sich nicht wundern, dass Hans-Jürgen eines Tages spurlos verschwunden ist. Doch andere Leute wundern sich sehr und interessieren sich auch brennend dafür! Deswegen bekommen wir zweimal Besuch von Männern in schwarzen Mänteln. Die Aufregung meiner Eltern ist groß. „Das kann mächtig ins Auge gehen, wenn man sich mit diesen Männern anlegt“, meint mein Vater. Doch Mutti erzählt nur das Allerbeste von ihrem Untermieter. Die Flucht erwähnt sie mit keinem Sterbenswörtchen. Vati und wir können nichts erzählen, denn Mutti hat bis dahin auch uns gegenüber geschwiegen.
AUF DEM GUT IN POLEN
Mutti hat noch fünf Schwestern. Maria, Elsa, Sonja, Lena und Inga. Sie lebten mit ihren Eltern im früheren Ostpreußen. Meinem Opa gehörte dort ein Gut. Mutti erzählt immer, dass Opa noch einen Bruder hatte. Ihr Vater wanderte, als die beiden Jungs noch klein waren, nach Amerika aus und ließ seine Familie in Polen zurück. Dafür konnte er ihnen ausreichend Geld in die Heimat schicken. Scheinbar gingen die Geschäfte in Amerika recht gut. Denn als mein Uropa starb, hinterließ er seinen Söhnen ein beträchtliches Vermögen. Wobei mein Großvater als Haupterbe eingesetzt war. Opas Bruder machte sich nach Amerika auf, um Opas und sein Erbe einzulösen. Opa gab ihm seine Geburtsurkunde mit. Er hat aber seinen Bruder samt Erbe nie wiedergesehen.
Doch auf dem Gut in Polen lebt es sich auch ganz gut. Meine Großeltern sind Deutsche. Ihre Kinder sprechen in der Schule Polnisch und zu Hause Plattdeutsch. Die polnischen Knechte werden von meinem Opa immer gut behandelt. Meine Mutter schwärmt heute noch von ihrem Zuhause, von dem Häuschen, wo sie den Fußboden mit frischem weißem Sand auslegen, das war damals in Polen so Mode, und dem Obstgarten mit den vielen Früchten. Und abends, wenn es dunkel wird, kann man die Frösche vom Teich her quaken hören.
Meine Oma bäckt frisches