Die Ratte kommt. Lydia Drosberg

Die Ratte kommt - Lydia Drosberg


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Der blöde Kerl aus dem Nachbarbett ist immer noch da und grinst mich besitzergreifend an. Wenigstens gibt es am nächsten Tag leckeres Eis in Hülle und Fülle.

      Bis vor kurzem durfte ich mich nur im Garten und im Haus bewegen. Alleine das Grundstück verlassen war immer tabu. Doch das ist okay, der Garten ist groß genug. Im hinteren Haus wohnt eine junge Frau mit ihrer Mutter und zwei kleinen Kindern. Mit dem älteren Jungen freunde ich mich an. Im Zaun zum Nachbargarten gibt es ein Loch, durch das ich durchkriechen kann. Mit Rausgehen meinten meine Leute sicher die Gartentür und nicht diese Öffnung im Zaun. So krabbeln wir durch das Loch und besuchen uns gegenseitig. Er besitzt eine tolle Schaukel, auf der man bis zum Mond und zurück fliegen kann. Seine Oma findet mich niedlich mit dem Spielhöschen und den blonden Locken auf dem Kopf. Sie freut sich jedes Mal, wenn ich sie besuchen komme und mit ihrem Enkel spiele.

      Manchmal darf ich auch zu Kaufmanns gehen. Sie wohnen neben uns. Bei ihnen im Stall steht ein Schaf, das guckt ziemlich blöde. In der Stube gibt es eine Klappe, die führt zu einem dunklen, unterirdischen Raum. Ich habe selbst gesehen, wie Frau Kaufmann den Wohnzimmertisch und den Teppich zur Seite räumt und die Luke nach unten öffnet. Meine Schwestern würden mir sicher wieder irgendein Ammenmärchen bezüglich dieses Loches erzählen. Doch Frau Kaufmann kommt mit eingewecktem Obst an die Oberfläche zurück. Also kann das da unten nur ihr Keller sein.

      Herr Kaufmann hat nur wenige Haare auf dem Kopf und trägt Brillengläser so dick wie Aschenbecher. Der Arbeitskollege von Herrn Kaufmann geht jeden Tag an unserem Haus vorbei. Meistens ist Frau Kaufmann zu der Zeit ebenfalls im Vorgarten. Sie begrüßt den Bekannten überschwänglich und sieht dabei sehr glücklich aus.

      Heute gehe ich ganz stolz mit zwei Schokoladenlollis zu Kaufmanns rüber. Den einen möchte ich Gabi schenken, sie ist Kaufmanns Tochter und etwas älter als ich. Den anderen will ich selber essen, denn ich liebe Schokoladenlollis.

      Die andere Tochter von Kaufmanns ist so alt wie meine Geschwister und deshalb nicht so interessant für mich. Eleonora und Marlene spielen oft mit Karin. Anne und Karin sind nicht so gern zusammen. „Die beiden können sich wahrscheinlich nicht riechen, weil ihre Charaktere sich so sehr ähneln“, meinen Eleonora und Marlene.

      Beim Spielen kommt Karin auf die Idee, Eleonora und Marlene den Pony zu schneiden. Sie schnippelt an Marlenes Haaren herum, und je mehr sie schneidet, umso schiefer wird die ganze Sache. „Mann, das muss doch gehen“, denkt Karin sich. Verzweifelt schneidet sie ein letztes Mal. Jetzt ist es nicht nur schief und krumm, sondern auch noch viel zu kurz. Na, Prost Mahlzeit! Das hält sie aber nicht davon ab, den Pony meiner anderen Schwester auch noch zu verschandeln. Zum Glück kommt Karin nicht auf die Idee, den beiden gleich die ganzen Locken abzuschneiden. Da würde Anne aber auf die Barrikaden gehen. Trotzdem ärgert sich meine Schwester sehr darüber und der Streit zwischen Anne und Karin ist schon wieder vorprogrammiert.

      In der Veranda treffe ich auf Herrn Kaufmann. Er steht vor mir wie eine Wand und schaut mich mit seinen großen Augen an, die durch die Brille noch viel größer wirken. Weder die Worte, die er zu mir spricht, noch seinen Gesichtsausdruck kann ich deuten, deshalb starre ich ihn ebenfalls nur an. Ich komme mir vor, wie das dumm glotzende Schaf im Stall. Eigentlich will ich ja gar nicht unhöflich sein, aber wenn er so schlecht spricht, kann ich ihn nicht verstehen und ihm demzufolge auch nicht antworten. Nur so dastehen, ohne etwas zu sagen, finde ich auch blöde, und deshalb renne ich einfach an ihm vorbei in die Wohnstube. Dort treffe ich auf Frau Kaufmann, die immer sehr freundlich zu mir ist. Meistens kann sie sich vor Freude nicht mehr halten, zum Beispiel, wenn ich pünktlich zum Mittagsschlaf behaupte: „Ich muss jetzt nach Hause; schlafen. Du weißt schon, wegen meiner Nerven.“

      Wenn es draußen regnet, muss ich drinnen bleiben. Dabei spiele ich viel lieber an der frischen Luft. Drinnen habe ich durch meine Kletterkünste, zum Leidwesen meiner Mutter, schon so manchen Blumentopf zerbrochen. Die von mir zerbrochenen Gefäße sahen aber auch wirklich schick aus. Weißes Porzellan mit wunderschönen Blumen drauf, dazu ein Goldrand und Goldfüßchen. Da muss ich meiner Mutter schon recht geben, wenn sie schimpft: „Wie kann man so etwas Schönes nur kaputt machen!“ Verflixt, warum stehen die mir beim Klettern aber auch immer im Weg?

      Jetzt befinde ich mich im Wohnzimmer. Meine Mutter klappert mit dem Geschirr in der Küche und singt alle Lieder hoch und runter, die sie aus der Jugendzeit kennt. Mir ist auch nicht langweilig. Ich springe mit viel Schwung auf dem Sofa hin und her. Das macht großen Spaß! Dabei schaue ich mir ganz genau unser Wohnzimmerbild an, als hätte ich es noch nie im Leben gesehen. Ziemlich blasse Farben, finde ich. Außer der Rock der Frau, der sieht besonders interessant aus - dunkelrot. Man kann sogar die Falten im Stoff sehen. Die Frau steht mitten im Bild an eine Heugabel gelehnt. Wo sie nur hinschaut? Leider kann ich ihr Gesicht nicht sehen, nur die zusammengebundenen Haare von hinten. Man könnte sich aber vorstellen, dass sie sehnsüchtig auf jemanden wartet.

      Meine Mutter reißt mich aus meinen Gedanken: „Ramona, hier hast du was zu essen.“ Was kann es Schöneres geben, als eine Stulle mit Bierschinken? Mutti bringt ihre Nähsachen mit und setzt sich zu mir an den Tisch. Unterm Tisch steht jetzt der offene Nähkasten. Sie ist ganz vertieft in ihre Arbeit. Ich rutsche geschickt vom Sofa und knie mich vor das Objekt meiner Begierde. Da sind Garnrollen in vielen Farben und die unterschiedlichsten Knöpfe zu bewundern und sogar eine Rasierklinge.

      Schnell schaue ich mich nach Mutti um, ob die Luft rein ist und dann nehme ich das Ding aus den Kasten. Vielleicht ist die Rasierklinge scharf, denke ich noch und habe mir schon in den Finger geschnitten. Mir wird ganz übel. Mist, das war doch keine so gute Idee!

      „Was machst du denn da unten?“, fragt mich meine Mutter da plötzlich. „Immer wenn du so still bist, muss ich aufpassen, dass du keine Dummheiten machst! Hab ich es mir doch gedacht!“ Und bei den Worten: „Da muss ich dir wohl ein Pflaster holen“, fängt sie fürchterlich an zu lachen. Sie kann sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Ich frage mich nur, was daran so witzig ist, wenn ich hier halb verblute?

      Zu Luckes durfte ich auch schon mal mit. Sie wohnen eine Straße weiter. Frau Lucke ist eine recht resolute Frau.

      Mein Cousin will Marlene von Luckes abholen. Aber als er vor ihrer Tür steht, bekommt er von Frau Lucke rechts und links eine geballert. „Bist du etwa einer von denen, die hier klauen wollen?“, schreit sie.

      „Nee, ich will nur Marlene abholen“, sagt Erwin kleinlaut.

      „Na, dann geh rein zu Marlene und hol sie raus!“

      Erwin ist die Lust darauf zwar vergangen, doch jetzt muss er. Er schwört sich aber, wenn er dort drinnen gewesen ist, nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstück zu setzen. „Die Bewohner sind ja lebensgefährlich! Was bildet die Alte sich ein, mir einfach so eine zu ballern? Ich habe ihr doch gar nichts getan“, denkt er und hält sich seine schmerzenden Wangen.

      Luckes haben einen Untermieter. Der heißt Herr Ebersdorf. Er ist ein ziemlich alter Mann mit weißen Haaren. Martina, die beste Freundin meiner Schwester Marlene, meint, wir könnten ihn ja mal besuchen. Der Untermieter bittet uns herein. Er bietet uns sogar Kekse und Milch an, wie bei einem richtigen Besuch. Er selber trinkt Kaffee. Der alte Mann ist zwar nett, aber ziemlich langweilig. Der weiß sicher mit uns Mädels nichts anzufangen. Marlene und Martina schlagen mir vor, Handstand an der Wand zu machen. Ebersdorf ist auch gleich begeistert. Beim Handstand rutscht natürlich mein Kleid bis zum Kinn und alles, was ich drunter trage wird entblößt. Meinen Schlüpfer kann man in voller Schönheit sehen. Die Mädels fangen an zu lachen und Ebersdorf wird ganz rot und grinst doof in sich hinein. Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Warum lachen die denn so blöde? Ist mein Schlüpfer etwa kaputt und hat obendrein noch Bremsspuren? Das ist ja mal wieder typisch für Marlene und Martina. Mann, ist mir das peinlich! Das passiert mir aber auch nicht noch einmal.


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