Die Ratte kommt. Lydia Drosberg

Die Ratte kommt - Lydia Drosberg


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Geigenlehrer etwas unheimlich findet. Heute sitzt sie im großen Saal vorm Theorieraum. Draußen regnet es und ihr ist langweilig. Als sie sich so im Raum umschaut, entdeckt sie an der schönen Täfelung etwas, das aussieht wie ins Holz gekratzt. Sie stellt sich hin, um die Worte besser lesen zu können, und tippt jedes Wort mit ihrem Regenschirm an. Doch sie wird nicht schlau aus dem Text.

      Auf einmal öffnet sich die Tür vom Sekretariat und der Direktor rennt mit großen Schritten auf sie zu. Er packt sie am Schlafittchen und schleift sie in sein Zimmer. „Was hast du da gemacht? Warst du der Schmierfink, der das da eingeritzt hat?“, schreit er.

      Martina weiß gar nicht, wie ihr geschieht. „Ich habe das auch erst eben entdeckt“, verteidigt sie sich. „Ich warte doch nur auf meine Freundin Marlene, die im Theorieunterricht ist.“

      Marlene wird aus dem Theorieunterricht geholt und ebenfalls verhört. Sie müssen sich ganz schön anstrengen, damit der Direktor ihnen Glauben schenkt und kommen gerade noch so mit einem blauen Auge davon. Martina schämt sich natürlich sehr und würde am liebsten nicht mehr mit Marlene in die Musikschule fahren. Aber da Marlene sie braucht, lässt sie sich dann doch wieder erweichen.

      Wenn Mutti arbeiten geht, muss ich in den Kindergarten. Ich gehe nicht gerne in diese Einrichtung – wegen der fremden Tanten. Und dann muss man da auch noch mittags schlafen. Jedes Mal, wenn ich auf der kleinen Liege aufwache und aufstehen will, trete ich in Pipi, weil mein Bettnachbar sein Wasser nicht halten kann. Igitt, schüttelt es mich. Außerdem hasse ich es, viel zu zeitig im Kindergarten zu erscheinen. Doch eine Mitfahrgelegenheit meiner Mutter zu ihrem Job nach Werder gibt es nur zu dieser Zeit. Wenn meine Mutti dort arbeiten möchte, muss sie auch irgendwie hinkommen und mich eben so früh am Kindergarten „abstellen“. Sie befiehlt mir, mich hinter der Hecke zu verstecken und dort so lange zu bleiben, bis der Kindergarten öffnet. Ich traue mich nicht aus meinem Versteck, bis die Kindergartentante die Tür aufschließt. Es sind vielleicht nur zehn Minuten, aber es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Mutti sagt immer: „Lass dich nicht von fremden Männern anquatschen und geh auf keinen Fall mit ihnen mit!“ Das hört sich so bedrohlich an, dass ich furchtbare Angst in meinem Versteck habe.

      Die Erinnerungen meiner Schwestern an die Kindergartenzeit sind natürlich nur gute. Kein Wunder, sie waren auch zu dritt. Sie schwärmen heute noch davon. Da gibt es Geschichten über wundervolle Feste, zum Beispiel wie sie Bohnen schnippeln und zusammen singen.

      Dann gibt es Geschichten über ihre geliebte Kindergärtnerin Tante Doris, so wie die Begebenheit von Marlene, Eleonora und dem Pudding, den es an diesem Tag gibt. Marlene findet in ihrem Pudding ein Stück Glas und fragt ihre Schwester: „Ela, willst du meinen Pudding nicht auch noch essen?“

      Eleonora sagt begierig „Ja“ und stürzt sich auf die Süßigkeit.

      Marlene schaut mit großen Augen zu, wie ihre Schwester den Nachtisch samt Glas runterschlingt. Sie fragt Eleonora erschrocken: „Hast du gar nichts gemerkt? Da war ein Stück Glas in dem Pudding.“

      „Wirklich?“, schreit Eleonora entsetzt und fängt fürchterlich an zu heulen.

      Zum Glück ist das Stück Glas so abgerundet, dass es keinen Schaden in ihrem Körper anrichtet. Die Reaktion von Tante Doris kann ich mir aber bildlich vorstellen.

      Sonntags gehen wir in die Kirche. Am Sonnabend werden einige Vorbereitungen für den Sonntag getroffen. Mutti geht einkaufen und kommt mit vollbeladenen Taschen, die sie an den Fahrradlenker hängt, zurück. Einmal in der Woche wird der Kühlschrank gefüllt, dass es kracht. Davon müssen wir eine ganze Woche leben. Mutti bereitet den Sonntagsbraten vor und bäckt zwei Bleche Hefekuchen. Der ist spätestens am Sonntagabend aufgegessen. Einer ist mit Obst belegt und der andere mit Butterstreusel. Dann wird sauber gemacht, damit wir am Sonntag Gäste einladen können. Zum Schluss säubern wir uns selber. Die anderen benutzen die große Badewanne. Leider hat sie keinen Abfluss und muss nach jedem Bad ausgeschöpft werden. Für mich wird eine kleine gusseiserne Badewanne in der Küche aufgestellt und mit warmem Wasser gefüllt.

      „Komm, Ramona, setz dich rein, jetzt wirst du gebadet“, sagt meine Mutti und fängt an mich einzuseifen.

      „Mann, bist du dreckig“, bemerken meinen Schwestern. „Aber kein Wunder, du spielst ja am liebsten im Dreck.“

      „Marlene, hol mal eine Schüssel warmes Wasser, damit ich Ramona die Haare abspülen kann“, bittet meine Mutter.

      Das Wasser läuft mir über die Haare ins Gesicht. „Aua, meine Augen!“, jammere ich.

      „Ach, hab dich nicht so“, sagt Annedore.

      „Das brennt aber“, halte ich dagegen.

      „Ramona, steh bitte auf, damit wir dich abtrocknen können“, sagt Mutti. „Ist es jetzt besser mit deinen Augen?“, fragt sie mich und wischt sie mir noch einmal sorgfältig mit klarem Wasser aus. Dann werde ich ordentlich abgerubbelt.

      Während ich warte, dass mein Haare trocknen, bekomme ich eine Scheibe Bierschinken in die Hand gedrückt. Frischer Bierschinken ist eine Delikatesse, finde ich.

      Danach bringt man mich ins frisch gemachte Bett und ich fühle mich pudelwohl. Ich bin sauber, das Bett ist frisch bezogen, das ergibt ein wundervolles Gefühl. Noch gemütlicher wird es, wenn ich meine Zunge an die Bettdecke lege und nuckele, dann kann ich rundum glücklich einschlafen. Meine Mutter sagt dann immer: „Nuckel mal schön, Ramona, und gute Nacht!“

      Am Sonntag stehen wir früh auf und machen uns fein. In der Woche renne ich nur mit Trainingsklamotten rum, aber am Sonntag bekomme ich ein schönes Kleid an. Mutti und meine Schwestern brauchen noch eine Weile. Ich bin schon fertig und schleiche mich nach draußen. Mein Kleid hat so einen wundervollen Rock. Da kann ich gar nicht anders, als mich um die eigene Achse zu drehen, um dabei meinen Rock zu bewundern, wie er in die Höhe schwingt. Natürlich falle ich in den Dreck und Mutti muss mir schnell noch eine saubere Strumpfhose anziehen. „Mann, was hast du denn jetzt schon wieder gemacht!“, schimpft sie. „Ich habe doch gesagt, du sollst aufpassen und dich nicht dreckig machen.“

      Meine Schwestern werfen mir vorwurfsvolle Blicke zu. Zum Glück findet Mutti noch eine Strumpfhose, denn mit vielen tollen Klamotten sind wir nicht gerade gesegnet. Vati will kein Geld für solche Kinkerlitzchen ausgeben. Er meint, ein einfacher Trainingsanzug reicht völlig aus. Mutti ist da ganz anderer Meinung. Deshalb näht sie so manches gute Stück für sich und uns selber. Wenn Mutti in ihren Kleiderschrank schaut, ist sie meist unzufrieden. Sie sagt dann immer: „Der ganze Kleiderschrank voller Klamotten und nichts anzuziehen. Nur Lumpen! Alles geschenkte Sachen, die nicht so richtig passen.“ Außerdem wird sie mal dicker und dann mal wieder dünner. So ist sie ständig dabei, ihre Kleidung umzuändern und wird damit nie fertig.

      Meine Schwester Annedore ist ganz eigen mit ihren Sachen. Sie schont sie und wäscht sie zum rechten Zeitpunkt, damit sie am Sonntag immer gut aussieht. Die anderen beherrschen diese Kunst nicht, sie wissen aber, wo sie sich bedienen können, wenn es in ihrem Wäschefach mal wieder nicht so gut aussieht. „Jetzt hat mir schon wieder jemand meine gute Strumpfhose geklaut!“, schreit Annedore. „Und meine gute Unterwäsche ist auch weg!“ Marlene und Eleonora schauen sich nur schuldbewusst an. So spielt sich so manches Mal ein kleines Drama am Sonntagmorgen in unserer Familie ab.

      Vati plagt sich nicht mit solchen Sorgen rum. Er besitzt für jede Gelegenheit einen Anzug. Seine Figur ändert sich nie. Ein Griff in den Kleiderschrank und er ist angezogen. Er versteht sowieso nicht, warum die Weiber so einen Aufstand wegen ihrer Klamotten machen. Doch wenn wir dann endlich alle fertig sind, schaut Mutti ganz stolz auf ihre vier Mädels.

      Wir müssen ungefähr 20 Minuten zur Kirche laufen. Im Sommer ist es ein schöner Spaziergang. Im Winter, wenn man die Kleidung nach Schönheit ausgesucht hat, ist es bitterkalt. Da will man am liebsten in das nächste Haus laufen, um dem scharfen Wind zu entgehen. Als Kleinkind werde ich von meinen Schwestern im Winter mit dem Schlitten zur Kirche gezogen. Sie albern und gackern herum, bis sie merken, dass ich gar nicht


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