Wanda und Wendelin. Gerti Gabelt
und Abdeckung der Kosten für die Seminare verwendet.
„Gibt es ein Programm für die Kinder aidskranker Eltern?“
„Es gibt kleinere Hilfsorganisationen die bewundernswerte Arbeit leisten. Ich habe von „Child care“ gehört. Die Kinder, deren Eltern an Aids erkrankt oder schon gestorben sind, werden von dieser Organisation betreut. Aber es sind natürlich viel zu wenige Plätze vorhanden. Außerdem gibt es eigens für an Aids erkrankte Kinder eingerichtete Krankenhäuser. Auch hier verrichten die Kirchen in ihren Einrichtungen sehr gute Arbeit. Sie erhalten Unterstützungen aus Europa von ihrem Mutterhaus oder durch Spenden. Viele der Einrichtungen können nur bestehen, weil die Mitarbeiter viel Eigeninitiativ und Idealismus aufbringen. Sie bringen sich ganz ein für die Kinder. Es gibt einzelne sehr harte Fälle. Eine kleine Jody, gerade sechs alt, fand ich völlig entkräftet sitzend auf dem Boden neben der sterbenden Mutter. Sie hielt die Hand der Mutter, rief ihren Namen immer wieder, als die Mutter längst schon gestorben war. Ich nahm das Mädchen bei der Hand, aber es wollte seine Mutter nicht loslassen. Sie sagte mir, dass die Mutter schlafe und sie wolle bei ihr bleiben bis sie wieder aufwache. Oft sind es Kinder unter zehn Jahren, die die schwerkranke Mutter bis zum Sterben begleiten. Sie bleiben dann alleine, verlassen und hilflos auf der Straße zurück. Glücklicherweise gibt es immer wieder Helfer, die sich um die Straßenkinder kümmern.“
„Ich habe heute sehr viel mehr erfahren, als ich erwartet hatte. Wie gut, dass wir gekommen sind. Vielleicht gibt es ja noch einmal eine Veranstaltung ähnlich dieser hier. Wir möchten uns nun verabschieden. Es war ein langer Tag.“ Mit diesen Worten verlassen Wanda und Wendelin die Damen vom Rotary Club und anderen Organisationen. In den nächsten Tagen wollen sie eine Missionsstation besuchen, etwa 80 Kilometer von Cape Town entfernt.
Wanda ist erschöpft. Zu viel hat sie in den letzten Wochen an Ungewöhnlichem erlebt.
Spontan entscheiden Wanda und Wendelin, am Morgen des Heilig Abend in den Botanic Garden zu gehen. Südöstlich, also hinter dem Table Mountain, erstreckt sich der Botanic Garden. Ein Temperaturunterschied von mehr als 10° C erwartet sie hier. Hier im Botanic Garden ist man geschützt vor dem herben Wind an der Westküste.
Exotische Vögel leben hier ungestört. Ein Summen und Zwitschern vermischt sich mit unterschiedlichen Lauten der Pinguine und erzählt von der Lebendigkeit dieses Paradieses. Aber auch die Flora bietet ein Meer von unterschiedlichen Blütenfarben und Düften.
Nach dem Besuch im Botanic Garden fahren sie, einem spontanen Entschluss folgend, noch einmal zur Waterfront. Wanda möchte noch ein kleines Geschenk für Wendelin besorgen, es ist ja Weihnachten!
Überrascht sehen sie, dass hier am Seeufer ein Open Air Christmas Concert stattfindet, das um 17:00 Uhr beginnt. Vor der Kirche sind Stuhlreihen aufgestellt. Bei näherem Hinschauen sehen sie, dass die ersten Besucher schon Platz genommen haben. Sie finden günstige Plätze, von wo aus sie die Darbietung gut übersehen können. Rote Kleider tragen die Damen des Chors, die nun die Bühne betreten. Es werden Weihnachtslieder in Englisch und Africaans vorgetragen, von einem Piano, zwei Geigen und einer Gitarre begleitet. Mit diesen vertrauten Melodien entsteht nun doch, ganz unerwartet, eine Weihnachtstimmung.
Am späten Nachmittag erreichen sie ihre Pension am Bluebergstrand, wo sie von Lady Dina und deren Tochter zu einer Weihnachtsfeier mit internationalen Gästen erwartet werden. Ein schwedisches Ehepaar, ein Herr aus Spanien und die beiden aus Germany oder Australia und Florida, bilden mit den Gastgebern Lady Di, wie sie liebevoll genannt wird, ihrer Tochter Dana und deren Mann Winston, sowie ihre beiden Kinder, die Weihnachtsgesellschaft. Alle singen Weihnachtslieder. Dabei werden sie von Winstons erwachsenem Sohn mit der Gitarre begleitet. Dana liest die Weihnachtsgeschichte, die immer wieder von einem „Stille Nacht … unterbrochen wird. Eine feierliche Atmosphäre ist spürbar.
Wanda und Wendelin haben vorgesehen, in der ersten Januarwoche den Bluebergstrand zu verlassen und zur Weiterfahrt aufzubrechen. Die Küste entlang zum Indian Ocean und von dort aus weiter in den Norden. Die genaue Wegstrecke wollen sie von einem Tag auf den anderen festlegen.
Von Winston, dem Gastgeber der letzten, Tage haben sie erfahren, dass es in der Nähe eine alte, hübsche Kapelle gibt. Unweit, zur Kapelle gehörend, soll es ein Waisenhaus geben, für Kinder, deren Eltern an Aids erkrankt oder verstorben sind. Wanda möchte den Ort aufsuchen, da es sich um eine deutsche Stiftung handelt. Etabliert wurde dieses Waisenhaus von einem Ehepaar aus Köln. Die Unterhaltung wird heute überwiegend aus Spenden finanziert und durch freiwillige Helfer, Ärzte und Schwestern unterstützt, die einige Monate oder länger hier arbeiten.
„Ich finde es bewundernswert, dass sich Leute für dieses Projekt einsetzten. Gerne würde ich sehen, wie das in der Praxis gestaltet wird. Lass uns den kleinen Umweg machen, bevor wir dann in den Norden aufbrechen.“
„Willst du etwa dort tätig werden?“
„Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, würde ich bestimmt meinen Einsatz einbringen. Aber so, in meinem Alter – leider zu spät. Aber ich würde gerne wissen, was ich versäumt habe.“
Mit dem Auto brauchen sie etwa 50 Minuten bis zur Kapelle. Mitten im Wald in einer Lichtung gelegen, stehen sie vor einer Kapelle in einem Gutshof ähnlichen Park gelegen.
Der Spätnachmittag vermittelt ein ungewöhnliches Licht. In dem einzigen Innenraum scheinen die letzten Sonnenstrahlen das Licht zu verstärken und zu bündeln, als würde später die Nacht von diesem gespeicherten Licht erhellt, somit den Energiefluss innerhalb dieses Raumes in den nächsten Tag fließen lassen, um dann wieder neu zu beginnen und neue Energie aufzunehmen.
Eine Türe führt zur modern eingerichteten Küche. In der Mitte steht ein Gasherd mit sechs Kochstellen und rechts neben dem Geschirrschrank befindet sich der Kühlraum. Back- und Micro-ofen sowie Arbeitsplatten sind neben dem Spülautomaten angebracht. Von dieser funktionstüchtigen Küche in gepflegtem Zustand, können Gäste mit Essen versorgt werden. Obwohl niemand hier zu sein scheint, sind alle Türen geöffnet. Die Missionsanlage besteht aus einem U-förmigen Gebäude. Im kleineren Teil befindet sich der sakrale Raum. Wanda ist begeistert von der Lage und von der Einrichtung. Zu gerne hätte sie gewusst, welche und wie häufig hier Veranstaltungen stattfinden. Es wäre der geeignete Ort für eine soziale Einrichtung.
Lächelnd nimmt sie Wendelins Arm und die beiden gehen weiter in den Wald. Es ist sehr heiß. In den Bäumen geht es sehr lebendig zu. Vögel fliegen zwitschernd zwischen den Zweigen hindurch, Eichhörnchen huschen den Baumstamm hinauf, überall ist Leben und Lebensfreude spürbar. Durch ein leises Scharren im Laub aufmerksam geworden, entdeckt Wendelin eine Eidechse, die sich durch das Unterholz schlängelt. Wendelin hat einen kleinen Steinhügel entdeckt, dem er seine ganze Aufmerksamkeit widmet. Er schiebt einen der oberen Steine etwas zur Seite und ihm eröffnet sich eine Welt voller Leben. Es wimmelt und krabbelt von unzähligen Käfern, Würmern und Insekten, die sich hier zwischen den Steinen ihre Wohnung gebaut haben. Eine ganze Weile beobachtet er das geschäftige Treiben, ähnlich eines Ameisenhügels.
Versunken in Erinnerung an seine Kinderzeit, betrachtet Wendelin mit welch einer Emsigkeit die Insekten ihren Tag gestalten.
„Wanda, schau’ nur wie viel Leben sich unter diesen Steinen verbirgt.“
Lächelnd geht sie zu Wendelin und streicht über seinen Rücken.
Was für ein wunderbarer Mann.
Wendelin setzt sich zu Wanda auf die Bank. Schweigend hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach. Beide haben ja ein Leben ohne den anderen schon gelebt, bevor sie sich neu begegneten.
Aus einem plötzlichen Impuls legt Wanda ihre Hand auf seinen Arm. „Wendelin, soll ich dir sagen, was ich jetzt gerne möchte?“
Wendelin schaut ihr in die Augen. Am liebsten würde er die Hand von Wanda streicheln, die auf seinem Arm ruht. Aber er fürchtet, sie würde sie zurückziehen.
„Was möchtest du Wanda?“, er versucht seiner Stimme Festigkeit zu geben, was ihm aber nicht ganz gelingen will.
„Ich möchte dich einfach küssen.“
Wendelin umfasst ihr Gesicht mit beiden Händen. Er