Wanda und Wendelin. Gerti Gabelt

Wanda und Wendelin - Gerti Gabelt


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welche Bedeutung Anna darin sieht. Dann müssen sie über Träume sprechen und Anna wird auch noch ihre Gedanken zu anderen Gesprächsbereichen einbringen wollen. Sie haben viel zu lange nicht miteinander kommuniziert. Die Zeit fliegt.

      ‚Aber zuerst möchte ich doch sehr gerne wissen, wo Wendelin sich aufhält. Sollte ich denn zu viel an weiblicher Erwartungshaltung eingebracht haben?’

      Immer öfter denkt Wanda an Wendelin. Sie wünscht ihn herbei. Nicht, dass er Anna ersetzen könnte. Das sind zwei Menschen, die in unterschiedlicher Form wichtig sind. Sie ergänzen sich. Ja, für Wanda bedingen sie sich sogar in der Form der emotionalen Intelligenz. Die Gelassenheit, die Anna ihr vermittelt, braucht sie nun. Wendelin hat eine andere Bedeutung. Das Treffen mit ihm hat eine Seite in Wanda berührt, die eigentlich ganz unpassend zu ihrem Alter ist. Auch das muss sie mit Anna besprechen, ob es möglich ist, sich noch einmal verlieben zu können?

      ‚Wo Wendelin nur sein mag?’ Er ist so vertraut, als würde sie ihn aus einem anderen Leben kennen …

      Das Klingeln des Telefons weckt Wanda aus ihren Gedanken.

      „Wanda, ich bin in London. Es ist wegen meines Sohnes Marcel.“ Pause.

      „Wendelin, was machst Du in London? Ich verstehe das nicht. Wieso warst Du plötzlich und ohne mir etwas zu sagen weg? Was ist geschehen?“ Als sie keine Antwort erhält, redet sie einfach weiter.

      „Geht es Dir gut?“

      „Ich komme morgen zurück. Der Flieger landet um 11.05 Uhr. Wir sehen uns dann.“

      „Möchtest Du dass ich Dich abhole?“

      „Ja, ich wünsche mir, dass Du mich abholst. Bis morgen dann.“

      Eine fremde Stimme hat zu ihr gesprochen. Und doch war ein Hauch, ein Unterton, der vertraut war. Und ganz viel Traurigkeit. Unendliche Traurigkeit.

      Wanda schaut dem Sekundenzeiger zu, wie er sich nur langsam vorwärts zu bewegen scheint. Es sind dies die Momente, da man glaubt, die Zeit habe aufgehört sich ihrer Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Man glaubt, sie stehe still.

      Heute Nachmittag wird Wanda den Bewohnern eine Geschichte vorlesen. Die Geschichte von den roten Schuhen. Hinterher wird es zu einem Gespräch kommen, das Wandas ganzen Einsatz fordert.

      Dann wird es nur noch eine Nacht der Ungewissheit geben. Sie ist erleichtert. Obwohl sie ahnt, dass Wendelin sich einer schwierigen Sache in London stellen musste.

      Wanda glaubt, einen weiteren Part ihrer Bestimmung erfüllen zu müssen. Mit dem Älterwerden hat sie gelernt, bestimmte Signale aus dem Unbewussten zu erkennen. Über die Meditation erlangt Wanda eine tranceähnliche Entspannung. Intuitiv reagiert sie. Blitzartig erlebt sie Visionen. Es dauert meist eine Weile bis sie diese einzuordnen in der Lage ist. Die Gewissheit, dass unser menschliches Dasein kosmischen Gesetzen unterliegt, lässt dem eigenen Entscheidungsraum dennoch einen Freiraum. Diese Visionen erfordern ihre ganze Energie, hinterher fühlt sie sich total erschöpft.

      Dieses Spiel, in Form einer ständigen Herausforderung, wird niemals enden. Es gilt, jeden Augenblick bewusst zu leben. Die Schattenseiten in uns gehören zum Ganzen, machen den Menschen in seiner Persönlichkeit erst liebenswert. C.G. Jung hat darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, seine Schattenseiten anzunehmen.

      WIEDERSEHEN

      Wanda steht vor dem ‚Board of Arrival Flight 8235 landed.’

      Gedanken schießen durch ihren Kopf, denen sie nachgeben möchte, sie möchte weglaufen. Zu spät, Wendelin tritt durch die Schiebetüre und sogleich begegnen sich ihre Augenpaare.

      „Wer ist dieser Wendelin, dass er mir so vertraut ist?“ – kurzer Gedankensprung, wirbelt durch Wandas Kopf. „Es ist gut, dass Du da bist.“

      „Wie war der Flug? Hast du wenigstens unser Wetter vermisst?“

      Sie gehen schweigend zum Auto. Als das Gepäck im Kofferraum verstaut ist und Wanda zur Autobahn heraus fährt, beginnt Wendelin zu sprechen.

      „Wanda, zuerst einmal sorry, dass ich dir nicht mitgeteilt habe, dass ich nach London fliege. Es ging alles ziemlich schnell. Trotzdem, es ist keine Rechtfertigung. Ich versuche zu erklären, auch mir selber gegenüber, warum ich dich nicht informierte. Ich wollte zuerst Gewissheit haben, was wirklich geschehen war. – Ich bekam einen Anruf in der Nacht vom Police Department Headquaters in London, wobei man mir mitteilte, dass mein Sohn tödlich verunglückt sei. Ich glaubte kein Wort. Wie im Schock buchte ich den nächsten Flug nach London. Natürlich wäre mir Zeit geblieben, dich zu verständigen. Aber ich wollte keinen Menschen sehen. Nicht reden, nicht in Erwägung ziehen müssen, was, wenn … Ich wollte nur alleine sein.“

      „Ja, ich verstehe. Wendelin, erzähle mir nur das was du möchtest und wann du es möchtest. Lass uns versuchen, eine Freundschaft auf dieser Basis entstehen zu lassen. – Ich würde nun gerne mit dir ein Café aufsuchen bevor wir ins Haus fahren. Was meinst Du dazu?“

      „Ich erlebe ein Gefühl der Geborgenheit, jetzt, da ich mit dir zusammen bin.“

      Im Café hat Wanda die Bestellung aufgegeben. Heute ist es so ganz anders als beim ersten gemeinsamen Treffen außerhalb des Hauses.

      Wanda erzählt, wie sie den Nachmittag mit den Bewohnern verbracht hat. Sie hatte die Geschichte von den roten Schuhen erzählt und die Frauen waren wieder zurückversetzt in ihre Jugendzeit, waren wieder kleine Mädchen, Teenager geworden. Sie hatten ihre Bedürfnisse und Wünsche aus ihrer Kinderzeit neu empfunden. Nicht wenige der „Mädchen“ hatten den großen Wunsch gehabt, einmal rote Schuhe zu besitzen. Heute hatten sie ihre Gebrechen und Krankheiten vergessen. Die Gegenwart war für die Bewohner mit der Vergangenheit ausgefüllt worden. Alle ließen sich in eine Märchenwelt führen, die eigenen Träume neu erleben.

      Niemand hat bemerkt, dass Wanda eigentlich egoistisch ‚Zeit füllen’ musste, um das Warten auf Wendelins Kommen zu verkürzen. Das alles erzählt Wanda nun. Mit keinem Wort berührte sie sein Erlebnis in London. Er lächelt sie an. Und das genügt.

      Am Abend kommt Wendelin, wie damals, als Christian gestorben war, zu Wanda. Damals, das war vor zehn Tagen.

      „Gibt es noch eine Flasche Wein für uns beide? Ich denke, der Anlass rechtfertigt einen guten Tropfen.“

      Er hört sich selber reden, so als stände er außen vor. Das waren doch nicht seine Worte! Es klang so, als gäbe es etwas zu feiern! Wie absurd! Wie ein Echo hallt das Gesprochene in seinem Kopf, „rechtfertigt“, hatte er wirklich „rechtfertigt“ gesagt?

      Wanda gibt Wendelin die Flasche zum Entkorken und stellt zwei Gläser bereit.

      Als der Wein in den bauchigen Kelch fließt und ihn zu einem Drittel mit seinem warmen Rot füllt – durch den Schein der Kerze wird die Farbe noch um eine Nuance dunkler – beginnt Wendelin zu sprechen. Etwas Feierliches erfüllte den Raum.

      MARCEL

      „Mein Sohn ist tot. Ich fühle mich an seinem Tode mitschuldig. – Als kleiner Junge war er ein Sonyboy. Den ersten Schmetterling sah er im Frühjahr. Und die einzige Sonnenblume, die aus dem Samen erblühte, wuchs in seinem Topf. Der Frosch, den er im Bach gefangen hatte, quakte zu seinem Vergnügen, wenn er ihn rief. Der Bussard kreiste über ihm, sobald er in den Wald ging. Die Enten im Teich hatte er dressiert, dass sie über eine Leiter hintereinander liefen und morgens auf dem Dach eines niedrigen Schuppens ihre Körner holten. Hund Robby und Kater Hermann liefen ihm entgegen, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Er investierte viel Zeit, die Tiere zu versorgen, sie vertraut zu machen. Ein Rabe weckte ihn morgens in seinem Bett, wenn sein Fenster geöffnet war. Geduldig wartete der Rabe, pickend und lärmend, zerkratzte die Tapete hinter dem Kopfende seines Bettes, was der Mutter nun gar nicht gefiel, bis Marcel sich endlich reckte und wach wurde. Dann holte Marcel Brotkrümel und fütterte seinen Raben. In der Schule hatte er keine nennenswerten Probleme. Seine Mutter unterstütze seine Aktivitäten. Sie war sehr stolz auf ihren Sohn. Wir liebten ihn beide sehr. In der Pubertät gab es zwischen meinem Sohn und mir schon einige disharmonische Situationen.


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