Wanda und Wendelin. Gerti Gabelt
ja, erst zur Persönlichkeit werden lässt: „Die Problematik des Ausgestossenseins steht im Mittelpunkt zahlreicher Märchen und Mythen. Die Helden solcher Geschichten müssen oft ohne eigenes Verschulden, unter den Folgen eines Ereignisses außerhalb ihrer Kontrolle leiden, meistens, weil ein wichtiges Detail aus Ignoranz, Naivität oder purer Bosheit von der Umwelt ausgehend, übersehen wird. In dem Märchen von Dornröschen wird die dreizehnte Fee vergessen und nicht zur Taufe des Königskindes eingeladen, woraufhin das Neugeborene mit einem Zauberspruch behaftet wird, der sämtliche Mitglieder des Königshauses in einen hundertjährigen Zustand symbolhafter „Eingeschlafenheit“ versetzt. Würdet ihr nun wollen, dass ich Euch – vorausgesetzt es wäre mir möglich – in junge Menschen verzaubern könnte?“
Diese Fragestellung ergibt eine lebhafte Diskussion verbunden mit der jeweils eigenen Rückblende, angestoßen vom soeben gehörten Märchen. Selbst die älteren Menschen, deren Geist zeitweise verwirrt scheint, haben in diesem Augenblick ein klares Erinnerungsvermögen, Gelebtes wird lebendig.
SENIOREN FLIRT – SPÄTE WERBUNG
Umständlich, aber zielsicher, rückt Wendelin seinen Stuhl in die Nähe von Wanda.
„Vielleicht könnte ich Sie in eine junge Frau verzaubern, wie wäre es dann mit Ihrer Antwort?“
„Ich brauche keine Verwandlung, ich bin jung. Hier, ganz tief drinnen“, bei diesen Worten zeigt Wanda auf ihr Herz und lacht.
„Ja, Sie sind wirklich erfrischend jung. Eine zauberhafte Märchenfee, in die man sich verlieben könnte.“ Leise fügte er hinzu: „Das habe ich vielleicht schon getan.“
Wanda sieht ihn schelmisch lachend an. Sie hat etwas von verlieben gehört, aber genau verstanden hatte sie es nicht.
Egal, es geht ihr gut und sie freut sich, dass sie die Menschen hier mit dem Märchen ein wenig hatte entführen können, aus dem Alltag und der Eintönigkeit des Seniorenhauses in eine Zauberwelt, die den Kindern ebenso gehört wie den Erwachsenen. Und ganz sicher auch den älteren Menschen zum Verweilen einlädt.
Die lebhafte Diskussion wird durch das Klingelzeichen, dass das Abendessen ankündigt, beendet. Wanda träg ihr Kissen in ihr Zimmer. Dann räumt sie die Kerzen weg. Gerade will sie den Paravent in ihr Zimmer bringen, da steht Wendelin neben ihr. Galant bittet er, das Wegräumen des Paravents ihm zu überlassen. Sie antwortet nicht, wobei sie ein Lächeln unterdrückt.
Er hat einige Mühe, den Paravent zu tragen ohne ihn zusammen zu klappen. Wanda hilft ihm, indem sie den Paravent mit einigen geschickten Handgriffen verkleinert.
Dann legt sie ihre Hände auf den Rücken und überlässt Wendelin den Rest des Aufräumens.
Als Kind hatte sie immer ihre Hände auf dem Rücken gefaltet, um eine Situation diszipliniert zu überstehen. Es war beim Einkaufen im Supermarkt, wenn es um Spielsachen oder Süßigkeiten ging, die verführerisch an jeder Ecke greifbar angeboten wurden.
Zuletzt noch einmal an der Kasse. Wenn man dann in einer Schlange warten musste, wurde die Versuchung, doch noch Kaugummi oder Schokolade in den Korb zu legen, besonders groß. Bis zum letzten Moment im Supermarkt musste man die Hände auf dem Rücken halten, wollte man mit der Mutter keine Probleme bekommen.
Oder beim höflichen Hände schütteln, was sie hasste und später auch für sich immer bewusst entschied, ob sie nun ‚shake hands’ machen wollte oder nicht. Bei ihren Auslandsaufenthalten hatte sie es als sehr wohltuend empfunden, ohne dieses shake hands sich zu begrüßen und zu verabschieden.
Heute nun hat sie erneut die Situation für sich entschieden, indem sie ihre Hände auf dem Rücken hält und sich der männlichen Hilfe anvertraut. Oh, war das schmeichelhaft, hier im Seniorenhaus ganz plötzlich wieder als Frau wahrgenommen zu werden.
‚Eigentlich denke ich, dass ich das auch noch mit Siebzig, Achtzig oder Neunzig erleben werde. Nun glaube ich ganz fest daran. Denn ich werde mich ja nun nicht mehr sehr verändern. Aus dem Seniorenhaus werde ich nicht mehr auf die Penne gehen, werde keinen Tanzkurs mehr besuchen oder gar in der Disco steppen. Tanzkurs, wer weiß? Also, es geht weiter. Angemessen, aber eben doch anders, vielleicht etwas besonnener. Aber letztlich behalten die Urkräfte im Menschen, die eigentlich nur der Fortpflanzung dienen sollten, will man der Lehre der Kirche folgen, ihre uneingeschränkte Gültigkeit.
Ich denke an die unverminderte Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern. Sie endet nicht mit einem bestimmten Alter.
‚Leben, lernen und lieben werden wir bis zum letzten Atemzuge.’
So hat Sheldon Kopp, ein Psychotherapeut aus Amerika, es formuliert.
EINKAUFSTAG
‚Einkaufstag! Ich brauche Rotwein und etwas Obst. Der Rotwein gehört zu meinem abendlichen Ritual, bevor ich zu Bett gehe. Und eben dieser Rotwein ist mir ausgegangen. Das heißt, ich habe eine Reserve von zwei Flaschen. Aber nur für den Notfall. Wenn ich einmal krank sein sollte.’
Wanda mag es, Frau Wind einfach mal zuzuhören, was Frau Wind natürlich sehr begrüßt.
Frau Bach, sie wohnt Wanda gegenüber, bittet häufig, Schokolade für sie zu besorgen.
Aber nur Noisette Schokolade. Manchmal bringe ich eine kleine Packung edler Pralinen mit, Feodora oder Lind bevorzugt die Dame. Ein kleines Schwätz’chen wird von Frau Bach ebenfalls geschätzt – vielleicht hat es sogar einen größeren Wert als die Süßigkeiten.
Nie zuvor im Leben ist es so schwierig, Zeit – die Zeit, die übrig bleibt – sinnvoll zu füllen. Wanda hatte immer zu wenig Zeit. Und nun erfährt sie, dass alte Menschen zu viel Zeit haben. Sie wissen alleine oft nichts mit der noch verbleibenden Zeit anzufangen.
Zeit ist kostbar, so war es ein ganzes Leben lang, und nun?
Herr Knopf braucht immer Tabak. Er dreht sich seine Zigaretten selber. Dann sei er beschäftigt und rauche weniger. Ein gütiger, älterer Herr, ganz Kavalier der alten Schule. Wenn Wanda bei ihm klingelt, begrüßt er sie immer mit einem Handkuss, dezent, galant.
Sicher gab es früher nicht wenige Damen, die sich für ihn interessierten. Hier nun lebt er sehr zurückgezogen.
Für Ms Wighton bringe ich eine Zeitung in englischer Sprache mit. Die bekomme ich am Bahnhof. Nur ein kleiner Umweg.
Zu ihr werde ich zum Tee gehen. Wir beide plaudern gerne etwas miteinander. Für Ms Wighton ist es erholsam, und für mich ist es ein Vergnügen, in ihrer Sprache zu kommunizieren.
Ms. Wigthon kommt aus Schottland. Für sie ist es ungeheuer wichtig, dass sie Schottin ist, nicht Engländerin, nicht irischer Herkunft, nein, sie ist eine echte Schottin. Sie leidet darunter, von ihrer Familie getrennt zu sein.
Vor Jahren kam sie mit ihrem Mann nach Deutschland, aus beruflichen Gründen. Sie sei nicht mehr zurückgegangen, da sie zwei Herzen in der Brust habe. Das würde sich auch nicht ändern, wenn sie in ihrer Heimat leben würde. Immer würde ihr das fehlen, was sie gerade nicht hat. Außerdem liebt sie den Süden, Italien und Frankreich. Von hier aus sind diese sonnigen Ziele näher als von Schottland aus. Diese kürzere Distanz zum Süden war einer der Gründe für sie und ihren Mann, sich hier in Deutschland niederzulassen.
Ihre Kinder waren in Schottland geboren und zur Schule gegangen. Den Schulabschluss machten sie in Deutschland. Später dann ging Ihre älteste Tochter zurück nach Schottland und heiratete dort. Sie kam nur zu Besuchen nach Deutschland. Ihr Sohn blieb hier. Dann geschah das Unfassbare. An seinem 18. Geburtstag hatte er einen Autounfall und konnte nur noch tot geborgen werden. Er wurde in der Morgendämmerung gefunden. Jede Hilfe kam zu spät. Ms Wighton hat den Verlust ihres Sohnes nie überwunden. Nachdem auch ihr Mann gestorben war, kam sie ins Seniorenhaus. Hier, so sagt sie, sei sie gedanklich ihren beiden Männern sehr nahe. Sehr häufig rede sie mit den beiden. Dabei ist keine Traurigkeit bei ihr zu spüren. Sie trifft ihre Vorbereitung auf ein Wiedersehen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Nein, sie ist nicht verschroben. Sie hat eine Möglichkeit gefunden, ihr Schicksal anzunehmen.’
Herr Mehl spricht sehr