Wanda und Wendelin. Gerti Gabelt
Dann sehen wir weiter, abgemacht?“
Nach einer kurzen Pause fragte Wendelin: „Aber nun zu Ihnen, liebe Wanda. Sie haben nicht immer hier gelebt. Ihr zauberhafter Akzent verrät mir, dass Sie aus einem anderen Land, vielleicht sogar Kontinent, kommen. Ich möchte gerne erfahren, warum Sie zurück sind?“ „Um wieder wegzugehen, wenn mein Bauch mir sagt, dass Weggehen das Richtigere ist. – Wissen Sie, ich bin in Bonn geboren. Mit meinem Mann habe ich später in der Nähe von Miami, in Fort Lauderdale, gewohnt. Ich kenne das Gefühl des ewigen Sommers. Mit Jacob bin ich sehr viel durch Europa gereist. Ich habe diesen Kontinent gemocht. Vielleicht auch wegen der Gegensätze zu Florida. Vor allem haben mich die historischen Städte der griechischen und römischen Kultur interessiert. Jacob hatte es immer so eingerichtet, dass wir während der Sommermonate in London, Paris oder München waren. Athen oder Rom besuchten wir dann von unserem jeweiligen Sommerdomizil aus. Im November sind wir meist zurück nach Florida gegangen, so dass wir Weihnachten in der Sonne erleben konnten. Ich bin nach hier gekommen, um alte Bekannte und Freunde aufzusuchen. Ich betrachte diese Einrichtung als Hotel, das ich verlassen kann, wann immer ich es möchte. In ein Hotel gehe ich nicht zum Sterben. Wobei ich, wie schon erwähnt, die Vorzüge des kompletten Versorgt-Seins ganz bewusst in meine Wahl einbezogen habe.“
„Weibliche Logik, die ich bisher vergeblich zu erlernen versucht habe. Ich, als Mann, werde also vergeblich danach streben, sie mir anzueignen.“
„Schauen wir uns doch dieses alles in der Gesamtheit an. Alles Geschehen, jede Aktion, zieht eine Reaktion nach sich. Alles bedingt einander.
Man könnte das auf eine erotische Studie ausweiten. Aber das machen wir beim nächsten Mal – Wendelin, stellen Sie sich vor, ich bin eine gute Fee und sie haben drei Wünsche frei. Was wären ihre Wünsche?“
„Dass Sie sich wünschen, mit mir nach Australia zu reisen. Und nicht nur, um die Orte der Austragung der Olympischen Spiele zu sehen.“
Spontan war dieser Wunsch ausgesprochen.
„Das war nur e i n Wunsch. Sie haben noch zwei offen.“
„Hm, ja, und ich soll nun an ihre Zauberkraft glauben. Ich spreche einen Wunsch aus, und Sie erfüllen ihn?“
„Meine Möglichkeiten haben Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen befinden wir uns in einem Areal, in dem wir einiges bewirken können. Wir benutzen dazu Energien und die Signale aus dem Unbewussten, aus dem Bauch, wenn Sie so wollen. Dann geschehen Dinge, die unsere Vorfahren mit ‚Berge versetzen’ bezeichneten. Auch das basiert auf der, vielleicht weiblichen, Logik.“
„Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie damit, dass ich mir selber den Wunsch oder die Wünsche erfüllen muss.“
„Ich darf Sie noch mal darauf hinweisen, lieber Wendelin, dass Sie überhaupt nichts müssen. Sie können und sie dürfen. Aber Sie müssen nicht. Meine Aufgabe als Fee sehe ich darin, Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Wünsche behilflich sein zu dürfen, indem ich versuche, mit Ihnen gemeinsam herauszufinden, was Sie wirklich wollen und Sie zum Beispiel am Anfang begleite. Später können Sie dann alleine gehen.“
„Dass ich noch so viel zu lernen habe, ist mir bisher nicht bewusst gewesen. Nun habe ich ihre Rolle übernommen, indem ich neugierig und sehr interessiert bin an Ihrem Leben.“
„Ich habe eine Idee. Sie überlegen sich zwei Wünsche für unsere nächste Begegnung. Dann sehen wir weiter. Abgemacht?“
„Abgemacht!“
Wanda war etwas müde, heute will sie nicht über ihr Leben reden. Geschickt bringt sie das Gespräch auf die Bundeskunsthalle, wo die unterschiedlichen Ausstellung zu sehen sind.
Während der Heimfahrt reden Wanda und Wendelin wenig miteinander. Kurz vor der letzen Biegung, vor der Senioren Residenz, von wo aus die Straße nicht einsehbar ist, verlässt Wanda das Auto. Sie will den letzten Rest des Weges laufen. Ein wenig frische Luft tut ihr gut. Und beide wollen ihre Freundschaft in der Privatsphäre eingebettet wissen. Vorerst jedenfalls. Wanda entscheidet sich, wie meistens, die Treppen zu nehmen. Bis zur ersten Etage schafft sie die Stufen mühelos. Außerdem hält das Treppensteigen sie fit. Das Klappern des Geschirrs sagt ihr, dass das Essen noch nicht begonnen hat. Es wird aufgetragen. Sie ist also noch pünktlich.
CHRISTIAN
Die Hälfte der Stufen hat sie hinter sich und plötzlich hört sie ungewohnte Laute, ein Wimmern. Jemand weint, röchelt. Das kommt von der oberen Treppe, die zur zweiten Etage führt. So schnell es geht steigt sie weiter die nächsten Stufen hoch. Nun sieht sie eine Gestalt am dem Boden liegen.
Es ist Christian. Er lebt seit achtzehn Jahren hier. Von der Schwester hatte Wanda erfahren, dass Christian bei der Geburt eine irreparable Schädigung des Gehirns davongetragen hatte.
Seine Mutter hatte ihn sehr geliebt und vor ihrem Tode mit Schwester Anja die Vereinbarung getroffen, den nächsten Platz für ihren Sohn zu reservieren. Das war vor achtzehn Jahren geschehen. In einer Behinderten Werkstatt hatte er einige handwerkliche Fähigkeiten erworben, die er hier anwenden konnte. Er half in der Waschküche, ordnete im Keller die Regale und beim Service in der Küche. Alle mochten ihn. Er war hilfsbereit und fröhlich und dankbar für ein gutes Wort. Zigaretten liebte er. Für seine kleinen Dienste wurde er mit seiner „Lieblingsnahrung Schokolade“ von den Bewohnern entlohnt. So hatte er seine feste Position im Seniorenheim.
Endlich erreicht sie ihn. Verzweifelt versucht Christian mit einer Hand nach einem Halt zu greifen. Atemlos kniet Wanda neben Christian nieder, nimmt seine Hand in ihre und hält sie ganz fest.
Spontan wird ihr bewusst, dass hier ein Mensch, Christian, im Sterben liegt und Hilfe braucht. Was kann sie tun? Verzweifelt sucht sie jemanden, der sich um ihn kümmern könnte. Niemand ist da.
Das Wimmern von Christian, den sie nur durch wiederholte Begegnungen kennt, löst eine Aktivität in ihr aus und lässt sie unbewusst handeln.
„Christian, ich bin bei dir. Sei ganz ruhig. Alles wird gut.“ Sie streicht ihm übers Haar, das ihm in nassen Strähnen in die Stirn fällt. Dann streichelt sie auch über sein Gesicht. Mit angstgeweiteten Augen schaut Christian sie an. „Christian, ich bin ja da.“
Dann versucht Wanda Hilfe herbei zu rufen. „Hilfe! Bitte helfen sie! Hilfe. So helft mir doch.“
Niemand rührte sich. Niemand hört ihre Rufe.
‚Was kann ich nur machen?’ flüstert Wanda leise. Dann redet sie ruhig auf Christian ein. „Alles wird gut. Christian, kannst du mich hören?“
„Lass mich nicht allein. Bleib bei mir“, es war nur ein leises, mühevolles Flüstern.
„Christian, ich bleibe bei dir. Alles ist gut. Christian, ich bin bei dir.“ Wanda bettet seinen Kopf auf ihren Schoss. Dann nimmt sie seine Hand in ihre. Sie streicht über sein Gesicht.
Die Hand von Christian entspannte sich. Doch Wanda hält sie fest als könne sie ihre Energie auf Christian übertragen.
Wanda legt ihre Finger an die Halsschlagader um seinen Puls zu tasten. Vergeblich. Dann legt sie ihre Hand auf seine Brust. Ein letzter tiefer Seufzer, sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Alles Leben hat seinen Körper verlassen. Seele und Körper haben sich getrennt. Christian ist tot. Und obwohl sie das spürt, will sie es nicht wahr haben. Umständlich zieht sie ihre Jacke aus und deckte ihn zu. Vorsichtig hebt sie seinen Kopf und schiebt ihren Schal als Kissen darunter. Sie steht auf und schaut sich suchend um, aber niemand ist zu sehen. Dann kniet sie neben Christian streicht noch einmal über sein Gesicht und seine Hand.
Leise betet sie, dass die Engel ihn geleiten, ins Licht, in die andere Dimension.
Um diese Zeit ist so etwas wie Rushhour im Haus. Die Schwestern und Helferinnen führen die Bewohner, die alleine nicht gehen können, zu den Tischen. Dann helfen sie beim Essen. Alle Bewohner und das Personal befinden sich im Speiseraum.
Für die Bewohner hier besteht Essen zu einem der wenigen Highlights des Tages. Während des Essens kann man der Einsamkeit im Zimmer entfliehen, bevor der Tag zu Ende geht.