Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg
meine. Sie haben diesen Weg begonnen. Verlässt Sie schon jetzt der Mut?“
„Welchen Weg meinen Sie?“, fragte Scherrer.
„Ihre Suche nach der Unsterblichkeit“, antwortete die Frau lächelnd. „War nicht das der Grund, weshalb Sie ins Tal der Könige fuhren? Soll ich weitersprechen oder vertrauen Sie mir?“
„Sind Sie Hathor, die Göttin?“, fragte Scherrer.
Sie lachte ihn an. „Sie träumen, junger Mann. Aber welche Frau kann widerstehen, wenn sie für eine Göttin gehalten wird. Können wir weitergehen?“
Scherrer nickte verstört. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „meine Nerven … dieses Land …“
„Ist voller Geheimnisse“, ergänzte die junge Frau. „In jedem Tourismusführer können Sie das nachlesen. Wundern Sie sich nicht. Vertrauen Sie mir einfach!“ Sie wandte sich ab und ging mit schnellen Schritten zum Zoll.
Selten habe ich mich so blamiert, dachte Scherrer. Was ist los? Warum bringe ich Vergangenheit und Gegenwart durcheinander? Aber sie hat die gleiche Figur und die gleiche Art zu gehen wie auf den Bildern an den Tempeln.
Der Zoll brachte ihn rasch in die Gegenwart zurück. Natürlich hatte man den Sarkophag beschlagnahmt und war gerade dabei, die Hüllen zu entfernen. Die junge Frau redete energisch auf die Zollbeamten ein, aber die ließen sich nicht beeindrucken.
„Sie müssen selber sagen, wer Sie sind und was Sie wollen“, sagte sie zu Scherrer.
„Ich bin ein Wissenschaftler aus Deutschland“, stellte sich Scherrer vor. „Dr. Dr. Scherrer, Botanisches Institut der Universität Tübingen.“
„Ein Botaniker?“, fragte der Zollbeamte, ein streng aussehender Mann im mittleren Alter mit einem gewaltigen Schnurrbart. „Wieso versuchen Sie einen Sarkophag außer Landes zu schmuggeln? Sie wissen doch, dass jegliche Ausfuhr von Altertümern verboten ist!“
„Das ist kein altertümlicher Sarkophag, sondern eine Nachbildung“, erklärte Scherrer. „Warten Sie. Ich habe die notwendigen Papiere bei mir.“ Er nahm aus der Brusttasche seines Maßanzuges einige Dokumente heraus. „Bitte sehr!“
Der Beamte studierte sie sorgfältig. „Wenn alles stimmt, müsste hier ein Firmenstempel sein“, sagte er und deutete auf eine Stelle an dem langen fest eingeschnürten Paket. „Öffnet bitte sorgfältig an genau dieser Stelle!“, wies er seinen Mitarbeiter an und sah triumphierend zu Scherrer hinüber. Natürlich werden sie nichts finden, dachte Scherrer und wandte sich ab. Da traf sein Blick den Blick der jungen Frau. Siegesgewiss lächelte sie ihm zu. Sie ist nicht von dieser Welt, dachte Scherrer. Ich kenne sie.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte der Zollbeamte. „Wir haben das Siegel gefunden. Entschuldigen Sie!“
Scherrer sah sich um. Mit einer Verbeugung gab ihm der Beamte die Papiere zurück. Die anderen waren eifrig dabei, die Verpackung wieder sorgfältig zu verschließen.
„Wir können gar nicht genau genug kontrollieren“, sagte der Beamte entschuldigend.
„Wo ist die junge Frau?“, fragte Scherrer. „Die Frau, die eben mit mir sprach?“
„Hier ist niemand gewesen“, sagte der Beamte. „Sie kamen allein.“
„Aber Sie haben doch …“, setzte Scherrer an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Beamte.
„Ja“, sagte Scherrer, „Ägypten ist ein geheimnisvolles Land.“
„So ist es“, bestätigte der Beamte.
Scherrer sah noch zu, wie sie den Sarkophag auf das Gepäckband legten, und beeilte sich, zu seinem Gate zu kommen.
„Professor Scherrer?“, fragte Anne verwundert.
Scherrer zuckte zusammen und legte den Sarkophag ins Dunkel zurück. „Meine Gedanken waren ganz woanders“, entschuldigte er sich. „Das habe ich bemerkt“, sagte Anne. „Sie haben auf den Sarkophag gestarrt und den Namen Hathor geflüstert. Das ist doch die ägyptische Göttin mit den Mandelaugen, oder?“
„Sie kennen sich aber gut aus“, lobte Scherrer. „Als ich damals den Sarkophag durch den Zoll am Flughafen in Luxor bringen wollte, gab es dort eine Beamtin, die aussah wie Hathor selbst. Sie hat mir geholfen, die antike Kostbarkeit durch den Zoll zu bekommen. Sie wissen doch, dass die Ausfuhr von Altertümern streng verboten ist. Als ich dann endlich im Flugzeug saß, hatte ich das Gefühl, eine der Stewardessen sähe ihr auch sehr ähnlich. Sie sprachen vorhin die Katzengöttin an. Die Plastiken sind so lebendig, dass sich die Grenzen zwischen der Zeit der alten Ägypter und unserer Zeit verwischen. Es muss Verbindungen geben zwischen dem Wissen der Ägypter um Unsterblichkeit und Tod und der modernen Wissenschaft.“
„Zum Beispiel die Todesgene“, meinte Anne. Als habe das Wort die geheimnisvolle Stimmung zerrissen, trat Scherrer vom Sarkophag zurück und bat Anne zum Sofa. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Anne.
„Nein“, antwortete Scherrer, „Sie haben mich in die Gegenwart zurückgeholt.“ Wie recht sie hat, schoss es ihm durch den Kopf. Ich rede von Hoffnungen und Träumen, dabei bin ich Wissenschaftler, und wir haben Möglichkeiten, solche Übereinstimmungen zu prüfen.
Anne ging zu ihrem Platz zurück und nahm die Unterlagen zu sich. Scherrer nahm es amüsiert zur Kenntnis. „Sie haben eine wunderbare Überleitung zu Ihrem Thema gefunden“, sagte er lächelnd. „Geht es bei Ihrer Arbeit auch um das Geheimnis des Todes?“
Anne wartete, bis er sich gesetzt hatte. Das erneute Glas Wein lehnte sie dankend ab. „So kann man es ausdrücken“, begann sie. „Dr. Meyer und ich haben vor einigen Tagen die Arabidopsispflanze geholt.“
„Ihre Pflanze“, lachte Scherrer.
„Sie starb plötzlich ab“, fuhr Anne fort.
„Aber das ist doch normal“, sagte Scherrer, „jede Pflanze tut das. Es gibt kein ewiges Leben.“
„Vielleicht doch“, wandte Anne ein. „Ich kam auf die Idee, dass ein besonderes Todesgen das Absterben bedingen muss, eine Art innere Uhr, die das Sterben zu einem festgesetzten Zeitpunkt einleitet, bei Arabidopsis nach 90 Tagen direkt nach der Fruchtreife.“
Vielleicht doch? Wie ein Bote aus einer anderen Welt hat sie das gesagt, dachte Scherrer. „Und diese Uhr müsste man anhalten können, meinen Sie?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Vielleicht“, antwortete Anne, „aber ich habe etwas anderes im Blick.“ Gespannt sah Scherrer sie an. „Man müsste solche Gene übertragen können. Man müsste die innere Uhr von Arabidopsis in eine andere Pflanze, etwa Baumwolle, einpflanzen.“
Scherrer pfiff durch die Zähne. „Die Baumwolle würde dann nach 90 Tagen absterben, meinen Sie? Das könnte aber zu früh sein.“
„Oder nach der Reife der meisten Kapseln. Vielleicht könnte man auch ein aggressives Todesgen mit einem einfachen Starter aktivieren. Dann wären die chemischen Entlaubungsgifte unnötig.“
Scherrer dachte kurz nach. „Aber verdient die chemische Industrie nicht gerade damit Millionen?“
„Zum Schaden der Menschen, des Bodens, der Umwelt und der Kinder, welche die Kleidung tragen müssen“, warf Anne engagiert ein.
„Man könnte eine Baumwolle mit idealer Lebensdauer entwickeln. Dazu könnte man statt der Entlaubungsgifte den passenden Starter für ein mögliches Todesgen patentieren lassen. Sie haben da eine gute Idee. Wie wollen Sie vorgehen?“, fragte Scherrer.
„Ich möchte zunächst selber verstehen, was in der Zelle abläuft. Ist es tatsächlich ein Todesgen, das dort arbeitet, dann könnte man in Tübingen das Gen vermehren und es später eventuell einmal auf eine andere Pflanze übertragen. Das Verfahren ist nicht neu, aber aufwendig. Die Züchtung der neuen Baumwollsorten könnte hier in unseren Gewächshäusern stattfinden.“
„Könnte man