Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg
die Labore, nie fragte sie nach seiner Arbeit, und nur ganz selten rief sie einmal im Institut an. So war es auch in Karlsruhe geblieben.
Dagmar erwartete ihn im Wohnzimmer. Scherrer begrüßte sie mit einem Kuss auf die Stirn, wie er es immer tat.
„Du bist heute früh da“, sagte Dagmar lächelnd und sah ihn mit ihren blauen Augen liebevoll an.
„Ich hatte einfach Freude daran, nach Hause zu kommen“, sagte Scherrer.
„Schade“, sagte Dagmar, „dass ich ausgerechnet jetzt noch einmal fortmuss. Wir haben eine Delegation bei uns. Da wird erwartet, dass man für die abendliche Unterhaltung sorgt. Wie wäre es, wenn du mitkämst?“
Scherrer sah seine Frau an. Sie war eine Frau, mit der man Karriere machen konnte, und sah immer noch gut aus. Ihre blonden Haare waren nicht mehr so strahlend wie früher, und der Farbe hatte sie ein wenig nachgeholfen, aber sie hatte die gleiche schlanke Figur wie damals, als sie sich kennenlernten.
„Leider kommt noch meine Assistentin“, sagte Scherrer und lächelte bedauernd. „Sie hat ein interessantes Thema für ihre Doktorarbeit gefunden. Es geht um Todesgene.“
„Todesgene?“, fragte Dagmar, als habe sie etwas Unangenehmes angefasst. „Was ihr alles fertigbringt! Du kommst also nicht mit?“
„Leider geht es nicht“, sagte Scherrer und versuchte so auszusehen, als täte es ihm leid.
„Dann ist es ja auch nicht schlimm, wenn es heute Abend sehr spät werden sollte“, sagte Dagmar und beobachtete ihn dabei genau.
Scherrer ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken.
Anne klemmte die Mappe mit ihren Unterlagen unwillkürlich fester unter den Arm. Hier in der Turmstraße wohnte der Professor also. Was würde sie erwarten? Es war sicher kein Zufall, dass er sie zu sich nach Hause bestellt hatte. Ein gutes Essen? Leise Musik? Abgedunkelte Beleuchtung? Diskrete Hausangestellte? Nach dem, was man sich in Tübingen erzählt hatte, musste er ein Meister der Verführung sein. Nein, das wollte sie auf keinen Fall!
Als sie das Gartentor öffnete, holte sie tief Luft und schritt zügig den Weg zum Haus hoch. Das Haus lag am Hang mit einem schönen Blick auf Karlsruhe. Vom großen Fenster aus konnte man sicher auch die Universität sehen. Stand da nicht ein Schatten am Fenster? Beobachtete Scherrer sie? Anne hütete sich, genauer hinzusehen, um ihm nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.
Auf dem Gartenweg kam ihr eine junge Frau entgegen. Sittsam gekleidet in schwarzem Kleid und mit einer Rüsche im dunklen Haar. Das Hausmädchen, dachte Anne. Die Zeiten haben sich nicht geändert.
„Sie sind Frau Neidhardt?“, fragte das Mädchen. „Darf ich Sie hineinführen? Der Professor erwartet Sie bereits.“
Anne folgte dem Mädchen zum Eingang. Eine schwarze Katzengöttin schien sie anzulächeln. Irritiert schaute Anne genauer hin. Es war wohl nur das Licht, das den Gesichtszügen der Statue aus schwarzem Granit Leben eingehaucht hatte.
Das Mädchen öffnete die schwere Tür und ließ sie ein. Dunkel, aber nicht unfreundlich wirkte der Flur. In gedämpfter Beleuchtung standen ägyptische Statuen rechts und links vom dicken, roten Teppich. Lautlos kam ihr Scherrer entgegen. Er hatte den dunklen Anzug, den er stets im Institut trug, gegen einen leichten, hellen getauscht und ging federnd über den weichen Teppich. Wie ein Tiger, der zum Sprung bereit ist, dachte Anne. Sie sah zu ihm auf und streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich hoffe, ich bin pünktlich“, sagte sie lächelnd.
„Aber natürlich“, sagte Scherrer und nahm ihre Hand mit kräftigem, aber nicht zu festem Händedruck. „Ich habe Sie schon erwartet, weil ich mich auf das interessante Gespräch mit Ihnen freue. Darf ich Sie in mein Arbeitszimmer führen?“
Galant nahm er ihren Arm und führte sie in einen großen Raum im Erdgeschoss. Man kann durch das Fenster bis zum Institut sehen, dachte Anne. Vielleicht hat er danach geschaut und gar nicht nach mir. Scherrer sah ihren Blick und sagte: „So vergesse ich meine eigentliche Aufgabe auch nicht, wenn ich zu Hause bin.“
Anne lächelte höflich und sah sich rasch im Raum um. Die Einrichtung war elegant, aber nicht protzig. Ledersessel luden zum Verweilen ein, eine Bücherwand bis an die Decke war gut gefüllt mit kostbaren Folianten, indirekte Beleuchtung gab dem Raum ein angenehmes, unaufdringliches Licht. In einer Ecke lag ein aufgeschlagenes Buch unter einer kunstvollen Stehlampe. „Dort ist mein Lieblingsplatz“, sagte Scherrer. Er beobachtet mich ganz genau, dachte Anne.
„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte Scherrer und bot ihr einen Platz auf der breiten Ledercouch an. Anne setzte sich und legte ihre Mappe auf den Marmortisch vor sich. Wie selbstverständlich nahm Scherrer ihre Unterlagen und legte sie zur Seite. „Darf ich Ihnen einen Sherry zum Empfang anbieten?“, fragte er. Anne nickte. „Unsere Köchin hat einen kleinen Imbiss für uns gerichtet. Das ist Ihnen doch recht?“, fragte er weiter, ohne eine andere Antwort als eine Bestätigung zu erwarten.
Anne zögerte einen Augenblick, bis sie mit einem strahlenden Lächeln nickte. Natürlich, genau das hatte sie erwartet. Aber sie würde mit der Situation schon fertig werden.
„Ich hoffe, unser Treffen kommt Ihnen nicht ungelegen?“, fragte Scherrer.
„Wenn es Ihnen keine Umstände macht“, sagte Anne leise.
Scherrer lachte markig. „Nein, so haben wir mehr Zeit!“ Er ging zu einer ägyptischen Büste und öffnete den Königskopf. „Amenophis der Dritte“, sagte er dabei. „Ein englischer Sammler hat eine Bar aus dem Kopf gemacht. Eigentlich ein Verbrechen.“
Sie ist so ganz anders als im Institut, dachte er und sah aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. Dass mir das nicht eher aufgefallen ist. Sie ist hübsch und charmant. Die weißen Kittel im Labor verdecken die Persönlichkeit. Ein Hauch von Wehmut kam auf. So war es eben. Wissenschaft und Leben, wie schwer ließ sich das vereinbaren! Lächelnd entnahm er der Bar eine Flasche Sherry und zwei Gläser und kehrte zurück. Gekonnt schenkte er ein und setzte sich neben sie. Dann hob er sein Glas und sah ihr tief in die Augen. „Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit!“
Anne hob ihr Glas. Scherrers Blick ging ihr durch und durch. Irritiert nippte sie am Sherry.
„Trinken Sie ruhig. Es ist bester, alter Sherry aus Irland. Ein Freund lässt mir regelmäßig Sendungen zukommen, die ich nur zu ganz besonderen Anlässen anbiete“, sagte Scherrer.
Anne überhörte geflissentlich die Schmeichelei. „Ihre ägyptischen Sammlungen sind wunderschön“, sagte sie. „Draußen habe ich die Katzengöttin bewundert. Ich habe eine solche Statue auf Abbildungen gesehen. Ich glaube, sie kommt aus Kom Ombo.“
„Oh“, sagte Scherrer, „Sie kennen sich in Ägypten aus?“
„Nein, ich bin noch nie dort gewesen, aber ich bewundere das große Wissen und die Kunst der Ägypter. Die Steinmetze verstehen es, die Dinge so natürlich wiederzugeben, als würden sie leben.“
„Wie schön Sie das sagen: Natürlich! So sehe ich das auch. Meterhohe Statuen, große Schriftzeichen in riesigen Säulen und doch trifft das Wort natürlich zu.“
„Waren Sie schon oft in Ägypten?“, fragte Anne. „Wie gern würde ich das Land einmal kennenlernen, das solche Statuen wie die Katzengöttin am Eingang hervorgebracht hat. Komisch, als ich vorhin an ihr vorbeiging, meinte ich einen Augenblick lang, sie schaue mich an.“
„So“, sagte Scherrer, plötzlich seltsam abwesend, „ich kenne das Gefühl. Eigenartig, in der letzten Zeit ist das schon öfter geschehen. Die Figuren haben mich ein Leben lang begleitet, aber nun scheinen sie mir etwas sagen zu wollen. Mit meinem Freund Nubi, einem ägyptischen Geschäftsmann, habe ich viele Ausgrabungen unternommen und einige Gegenstände mitnehmen dürfen. Sie scheinen für diese Kunst empfänglich zu sein.“ Als habe er gemerkt, dass er einen Augenblick geistig abwesend gewesen war, fügte er hinzu: „Entschuldigen Sie, ich war unaufmerksam. Möchten Sie noch von dem Sherry?“
Er lächelte sie an und war wieder ganz der Professor. Will er