Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg
„Es ist schon spät“, sagte Anne, „ich möchte gehen. Wäre das Thema für eine Doktorarbeit angemessen?“
„Man müsste die Uhr anhalten können“, flüsterte Scherrer ganz abwesend. Dann musste er husten und ganz in Gedanken sprühte er sich das Medikament in den Rachen. Er schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Ein unheimliches Gefühl ergriff Anne und sie stand auf. „Entschuldigen Sie“, bat Scherrer, wieder so ganz der galante Professor, und erhob sich ebenfalls. „Sie haben so interessante Gedanken vorgestellt, dass ich mich ablenken ließ. Morgen können wir im Institut weiter darüber sprechen.“
Mit raschem Griff läutete er nach Irmgard. Sie erschien sofort.
„Frau Neidhardt möchte gehen“, sagte er. „Hatten Sie einen Mantel oder eine Jacke bei sich?“
Anne schüttelte den Kopf. Sie fror, denn Scherrer war immer noch ganz in Gedanken. „Bis morgen“, verabschiedete sie sich und reichte ihm die Hand. Sein Händedruck war schlaff und abwesend.
Sie folgte Irmgard durch das Haus. Als sie an der Katzengöttin vorbeiging, war ihr, als sei das Lächeln auf dem steinernen Gesicht tiefer geworden. Auf dem Weg durch den Garten drehte sie sich noch einmal um. Der Mond schien für einen Augenblick durch die Wolken und sein Licht fiel auf Scherrer, der am Fenster stand. Gespenstisch wirkte sein Umriss im Mondlicht. Er hob grüßend die Hand und Anne lief eilig fort.
Scherrer saß noch länger in seinem Arbeitsraum und dachte an früher. Wie einfach war es doch damals gewesen. Viele Studentinnen und Doktorandinnen hatten ihn besucht und manche von ihnen waren die ganze Nacht geblieben. In seine Erinnerungen mischte sich das Bild einer jungen Frau, die ihm seit einiger Zeit häufiger im Park begegnete. Er sah ihre schlanke Figur vor sich, ihre wiegenden Hüften und wie ihr langes Haar bei jedem Schritt ihre Schultern berührte. War es Zufall, dass sie ihm jetzt so oft im Park begegnete?
5. KAPITEL
Scherrer bat am nächsten Morgen zu einer Besprechung in sein Büro. Meyer war auch anwesend. „Haben Sie gut geschlafen?“, begrüßte Scherrer Anne. „Ich habe Sie heute Morgen in der Bahn nicht gesehen.“
Anne lächelte. „Ja, Herr Professor, ich habe gut geschlafen und dabei von den ägyptischen Gottheiten geträumt. Dann bin ich besonders früh aufgestanden und gleich ins Labor gefahren. Die Forschungen lassen mich nicht los.“
„Das kann ich verstehen“, sagte Scherrer. „Es ist auch zu interessant, was Sie vermuten. Ich habe mich im Internet kundig gemacht. Noch niemand hat Arabidopsis auf ein Todesgen untersucht. Wir betreten Neuland.“ Der Stolz war ihm anzuhören.
„Sie vermuten ein Todesgen in Arabidopsis?“, fragte Meyer. „Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich so um meine Pflanze gekümmert haben, Frau Neidhardt.“
Anne nickte in seine Richtung. „Sie waren ganz enttäuscht, Herr Meyer, als ich die Pflanze dann in der Hand hielt und über den festgelegten Lebenszyklus nachdachte. Da kam mir die Idee eines möglichen Todesgens.“
Meyer sah sie mit seinen durchdringenden schwarzen Augen an, und Anne konnte sich eines unheimlichen Eindrucks nicht erwehren. „Haben Sie noch lebende Zellen vorgefunden? Sie wissen doch, dass Pflanzenzellen potentiell unsterblich sind“, fragte er.
„Eigenartig, dass Sie mich das fragen“, antwortete Anne. „Erstens sind wir noch nicht sicher, dass wirklich von Zelle zu Zelle der Befehl zum Tode gegeben wird, zweitens habe ich tatsächlich bei der Untersuchung winzige Zellbereiche gefunden, die nicht abgestorben waren. Ich habe die Zellen für eine Kalluszüchtung vorbereitet. Aber ob es unsterbliche Zellen sind, können wir natürlich noch nicht sagen.“
Meyer nickte nachdenklich.
Scherrer hustete. Wie am Vorabend wurde der Hustenreiz stärker und stärker und löste sich endlich in einem krampfartigen Husten. Er sprang auf und wankte zu seinem Schreibtisch hinüber, das Taschentuch vor den Mund gepresst. Anne sah entsetzt, wie er sich vergeblich bemühte, Atem zu holen. „Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte sie.
Scherrer schüttelte trotz des schweren Anfalls den Kopf und keuchte ein „Nein!“ heraus. Als er endlich wieder Luft bekam, atmete er tief durch. Nach wenigen Minuten hatte er sich gefangen und nahm erneut am Tisch Platz. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte er. „Seit einiger Zeit plagt mich dieser Husten. Nachher werde ich zum Arzt gehen.“
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Anne.
„So weit ja“, nickte ihr Scherrer zu. „Bitte beginnen Sie mit Ihren Ausführungen.“
„Ich möchte zunächst den Mechanismus des Todes in der Pflanze kennenlernen. Zu diesem Zweck möchte ich eine große Anzahl Arabidopsispflanzen unterschiedlichen Alters bestellen. Ich denke, Tübingen wird uns bei der Beschaffung behilflich sein können.“
Anne sah Scherrer fragend an, aber Meyer antwortete: „Ich habe mich schon darum gekümmert. Wir werden die Lieferung im Laufe dieses Tages oder spätestens morgen bekommen.“
„Sie sind aber schnell“, warf Scherrer ärgerlich ein.
„Herr Professor, Sie wissen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben“, sagte Meyer.
„Danke, Dr. Meyer, aber Sie hätten mich über die Bestellung informieren müssen“, erklärte Scherrer.
„Ich vermute“, fuhr Anne fort, „dass der Gehalt an Katalase für den Zelltod verantwortlich ist.“
„Ähnliche Forschungsergebnisse sind im Internet veröffentlicht“, bestätigte Scherrer.
„Die Berichte darüber liegen mir vor“, bestätigte Anne.
Meyer nickte anerkennend. „Erst wenn der Mechanismus klar ist, können wir versuchen das Todesgen zu finden.“
6. KAPITEL
Sybille Walter ließ nicht locker. Eines Tages betrat sie das Botanische Institut voller Herzklopfen. Anneliese Ehlert, die Sekretärin, saß im Empfang und schaute kurz auf, als Sybille Walter hereinkam. Sie sah gleich, dass sie eine Journalistin vor sich hatte.
„Sie wünschen?“
„Ich bin Journalistin bei der Welt der Wissenschaften“, stellte sich Sybille Walter vor und nannte ihren Namen. „Ich möchte einen Artikel über Herrn Professor Scherrer schreiben. Er ist weltbekannt und arbeitet jetzt in Karlsruhe. Unsere Leser interessiert, ob er weitere neue Forschungen plant. Ein Genetiker, der sich um einen Botanischen Garten bemüht, das klingt nach einer spannenden Geschichte.“
Anneliese war von der jungen Frau recht angetan. Ihr gefiel die frische Art, mit der Sybille gleich auf das Thema zu sprechen kam. „Sie möchten einen Termin bei Professor Scherrer? Das wird nicht einfach sein. Sie wissen, er ist ein Emeriti und entsprechend zurückhaltend.“
„Können Sie mir weiterhelfen?“, fragte Sybille. „Hier im Institut wird doch sicher auch an Arabidopsis geforscht.“
Überrascht schaute Anneliese Sybille an. War bereits etwas durchgedrungen?
Sybille sah ihr Erstaunen und freute sich, dass sie recht behalten sollte. Hier ging es um mehr als nur den Botanischen Garten.
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Anneliese.
„Internet“, antwortete Sybille. „Sie wissen doch, dass heutzutage kaum etwas geheim bleiben kann.“
„Dann wissen Sie es ja bereits“, bestätigte Anneliese. „Wir haben hier im Botanischen Institut den Auftrag, uns um den Botanischen Garten zu kümmern. Aber unsere Doktorandin, Frau Neidhardt …“
„Die junge Frau mit dem braunen Wuschelkopf?“, fragte Sybille.
„Sie kennen sie?“
„Aus der Straßenbahn. Man begegnet sich ja fast jeden Morgen“, beschwichtigte Sybille.
„Ja, die hat eine interessante Pflanze beim Umweltzentrum gefunden.“