Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg
„Der Tod ist das Geheimnis des Lebens, denn nur mit ihm ist so viel Leben möglich“, sagte einst Goethe, der Denker, der ungewöhnliche Naturwissenschaftler, der Mann, der andere Wege ging. Ob ich auch andere Wege gehen werde?
Der unerbittliche Husten stellte sich wieder ein. „Das ist das Leben“, sagte Scherrer, „ein ständiger Kampf gegen den Tod, den wir nur verlieren können.“ Er sagte es wie eine Frage, aber die Bücher und Statuen gaben keine Antwort, die er nicht schon Hunderte Male gelesen hatte. Er kannte das ägyptische Totenbuch. Die Reise durch die Zwischenwelt, vorbei an den Gottheiten, die das Herz wogen. „Was habe ich in die Waagschale zu legen?“ Diese Frage stand plötzlich im Raum. Habe ich stets nur genommen? Habe ich immer nur genossen oder auch gegeben? „Ich habe gesucht“, sagte Scherrer, „und ich suche noch immer nach einer Antwort.“ Ob das zählen würde? Er wusste es nicht.
Zaghaft klopfte es an der Tür. „Herein“, rief Scherrer. Das musste das Hausmädchen sein. Dagmar würde nicht anklopfen. Es war das Mädchen. „Möchte der Herr frühstücken?“, fragte Irmgard.
Er wollte fragen, woher sie wusste, wo er zu finden war. Aber das Hauspersonal hatte auch so seine Geheimnisse. „Ist meine Frau schon auf?“, fragte er und wusste gleichzeitig, dass er sie nicht sehen wollte.
„Die gnädige Frau erwartet Sie um 8.00 Uhr im Esszimmer. Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte sie.
„Ja, gerne“, antwortete Scherrer, „ein Kaffee wäre schön. Bitte stellen Sie ihn hier ins Arbeitszimmer. Ich habe noch zu tun und möchte mich eben frisch machen.“
Mit keiner Miene zeigte das Hausmädchen, dass sie sich wunderte. Gutes Personal ist viel wert, dachte Scherrer unwillkürlich und ging aus dem Raum, um sich im Bad fertig zu machen.
Im Bad lagen saubere Wäsche zum Wechseln, ein frisches Hemd und auf dem Bügel hinter der Tür hing ein anderer Anzug. Ein Gruß von Dagmar, meiner Frau, dachte Scherrer in einem Anflug von Zärtlichkeit. Sie kennt mich seit vielen Jahren. Einen Augenblick überkam ihn ein melancholisches Gefühl von Einsamkeit. Wir haben uns verloren. Vielleicht schon vor langer Zeit.
Er schaute in den Spiegel und erschrak vor seinem eigenen Spiegelbild. Die sonst so gepflegten Locken hingen wirr in seine Stirn. Er hatte es gar nicht bemerkt. Die Augen waren ein bisschen blutunterlaufen. Die Lider hingen schlaff herunter. Der Mund war schmal und zusammengekniffen. Ein Gesicht nach einer Nacht voller Unruhe und wenig Schlaf.
Scherrer zog sich langsam aus und duschte ausgiebig. Dann rasierte er sich sorgfältig. Ganz in Gedanken griff er zu dem Schalter unter dem Waschbecken und drückte ihn. „Morgendlicher Befund“, sagte seine Stimme vom Tonband. „Augen klar, Zahnfleisch gut durchblutet, Zunge ohne Belag.“ Lächelnd sah er sich an, griff erneut nach dem Schalter und stellte das Tonband ab. Eine endlose Reihe von Tagen, an denen alles immer gleich war.
„Gesund und ohne Befund“, sagte er. „Ich habe geglaubt, es müsse immer so sein.“
Langsam kleidete er sich an. Ein Kratzen im Hals mahnte ihn erneut an den längst fälligen Arztbesuch. Scherrer nahm ein Papiertuch aus dem Spender und hielt es vor den Mund Ein neuer Husten schüttelte ihn. Als der Anfall endlich vorbei war, war das Taschentuch leicht gerötet. Scherrer sah die Blutspuren betroffen an und warf das Tuch in den Mülleimer. Er kämmte seine grauen Haare, kniff den Sitz der Locken mit zwei Fingern nach und zog sich sorgfältig an. Bevor er hinunterging, kontrollierte er den Sitz der Krawatte und des Anzugs. Er war zufrieden. Die heiße Dusche hatte die Spuren der Nacht beseitigt. Scherrer griff nach einem Becher, ließ Wasser einlaufen, gab einige Tropfen Mundwasser hinzu und gurgelte mit dem Wasser, um den Blutgeschmack im Munde zu beseitigen. Vorsichtig spuckte er aus, um seinen Anzug auf keinen Fall zu beschmutzen. Dann warf er sich einen letzten Blick zu, freute sich daran, dass sein Mund wieder überlegen lächelte, und begab sich zurück in seinen Arbeitsraum.
Der Kaffee stand bereit. Scherrer trank einen Schluck und spürte, wie das heiße Getränk in den Magen rann, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete. Dann ging er an seinen Schreibtisch, stellte den Computer an und wartete geduldig, bis das Programm hochgefahren war. Flink eilten seine Finger über die Tasten und schienen sie kaum zu berühren.
„Interview mit Professor Scherrer“, schrieb er und stellte die wichtigsten Gedanken des Gesprächs mit Sybille zusammen.
Dann nahm er das Telefon, wählte die Nummer seines Büros und bat seine Sekretärin um einen Gefallen. „Ich überspiele Ihnen einen Text über das Internet“, erklärte er, „bitte drucken Sie ihn aus und schicken ihn per Boten in die Redaktion der Welt der Wissenschaften.“
„Selbstverständlich“, sagte Anneliese. „Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“
„Auf meinem Schreibtisch liegt ein Umschlag für Frau Sybille Walter. Bitte legen Sie ihn zu dem Bericht.“
Sie ging in sein Büro und fand dort schnell, was er meinte. „Ich habe ihn gefunden, Herr Professor“, sagte sie. „Wann werden Sie heute hier sein? Es liegen einige Termine an.“
„Ich komme später“, sagte er. „Der lästige Husten. Ich muss endlich zum Arzt. Sie wissen doch …“
„In Ordnung, Herr Professor“, sagte Anneliese und dachte: Männer und Arzt!
Scherrer lehnte sich entspannt zurück, als es an der Tür klopfte. „Ja, bitte“, rief er.
Irmgard öffnete und sagte: „Die gnädige Frau lässt bitten!“
„Danke“, sagte Scherrer und erhob sich. „Ich bin gleich bei ihr.“
Dagmar Scherrer saß mit dem Rücken zur Tür. Das war ihr Platz, aber heute hatte Scherrer das Gefühl, als säße sie absichtlich so, um ihm noch einen winzigen Moment Zeit zu geben, und er war ihr dankbar dafür. Er sah ihren schlanken Rücken, die gerade Haltung, mit der sie am Tisch saß, die stets korrekten, hochgesteckten, blonden Haare. Ja, sie war seine Frau, die seine Karriere sehr gefördert hatte, die es verstand, auf Empfängen die richtigen Leute im rechten Ton anzusprechen. Sie hörte ihn und drehte sich zu ihm um. „Danke, dass du dir Zeit nimmst. Sicher hast du sehr viel zu tun“, sagte sie. Es war eine Feststellung, aber sie legte ihm damit auch alle Worte zur Entschuldigung hin.
„Ich habe die Nacht im Arbeitszimmer verbracht“, sagte er und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. „Es ist sehr spät geworden und die Gedanken haben mich dann nicht mehr losgelassen.“
„Setz dich“, sagte Dagmar. „Möchtest du auch etwas frühstücken?“
Scherrer nickte und nahm ihr gegenüber Platz. Irmgard schenkte ihm Kaffee ein, aber Dagmar bat sie mit einer Handbewegung, sich zurückzuziehen. Jetzt kommt es, dachte Scherrer, aber Dagmar lächelte ihn an.
„Waren es neue Erkenntnisse zu den Experimenten, die dich nicht schlafen ließen?“, fragte sie.
Scherrer griff ihre Worte gerne auf. „Es geht um sehr viel. Endlich nehme ich wieder an der Forschung teil.“ Aber dann merkte er, dass Dagmar gar nicht zuhörte. Erneut versuchte er ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Wir arbeiten im Institut ganz wunderbar zusammen“, erzählte er.
„Ich weiß“, bestätigte Dagmar abwesend. „Aber darum geht es nicht. Wovor hast du eigentlich Angst?“, fragte sie ihn direkt und sah ihm forschend in die Augen.
Scherrer zuckte zusammen. Eine solche Frage hatte er nicht erwartet. „Angst?“, fragte er und seine Stimme klang heiser.
„Edwin“, sagte Dagmar leise, „wir sind seit so vielen Jahren verheiratet. Du bist oft spät heimgekommen oder die Nacht über fortgeblieben, aber noch niemals hast du angezogen im Arbeitsraum übernachtet. Irgendetwas muss dich ungeheuer beschäftigt haben. Hast du kein Vertrauen zu mir?“ Liebevoll sah sie ihn mit ihren blauen Augen an.
Scherrer dachte nach. Was kann, was will ich ihr sagen?, fragte er sich. Was weiß sie? Sybille? Rasch verwarf er den Gedanken. Nein, Dagmar ging es nicht um Eifersucht wegen eines kleinen Abenteuers, es ging ihr um ihn, um ihn ganz persönlich.
„Wir haben im