Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
die Möglichkeit der Verweigerung der Angabe der Konfessionszugehörigkeit in bestimmten Fällen (z. B. bei der Aufnahme in ein Krankenhaus)18 finden hier ihre Grundlage. Gemäß Art. 140 GG/136 Abs. 3 WRV besteht ein behördliches Fragerecht mit korrespondierender Auskunftspflicht nur, wenn davon Rechte und Pflichten auch im staatlichen Bereich abhängen (z. B. die Konfessionsangabe bei der Meldebehörde im Hinblick auf die Verpflichtung zur Zahlung der Kirchensteuer) oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert (z. B. Volkszählung19).
b)Zu schwierigen Abgrenzungsproblemen kann es kommen, wenn positive und negative Religionsfreiheit aufeinandertreffen. Als Beispiel sei hier der sog. Schulgebets-Fall angeführt: Das Bundesverfassungsgericht hat – unter Aufhebung eines Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofes20 – entschieden, dass das allgemeine Schulgebet im Grundsatz auch dann verfassungsrechtlich unbedenklich sei, wenn ein Schüler oder dessen Eltern der Abhaltung widersprechen. Deren Grundrecht der negativen Religionsfreiheit sei jedenfalls dann nicht verletzt, wenn über die Teilnahme am Gebet frei und ohne Zwänge entschieden werden könne. Die bei Beachtung des Toleranzgebotes regelmäßig vorauszusetzende Freiwilligkeit sei aber dann nicht mehr gesichert, wenn der Schüler nach den Umständen des Einzelfalles der Teilnahme nicht in zumutbarer Weise ausweichen könne. Es dürfe keinesfalls zu einer Diskriminierung des oder der Andersdenkenden kommen. In diesem Fall hätte die negative Religionsfreiheit Vorrang.21 Bei Kollisionen von positiver und negativer Religionsfreiheit ist, wie auch bei sonstigen Grundrechts- oder Verfassungskollisionen, eine Abwägung zwischen dem Inhalt der verschiedenen widerstreitenden Rechtsgüter (hier: positive und negative Religionsfreiheit) vorzunehmen und diese zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Die Freiheit, etwas anderes oder nichts zu glauben, umschließt jedenfalls nicht die Freiheit, andere mit staatlicher Hilfe an der Entfaltung ihres Glaubens zu hindern.
c)Die Freiheiten des Art. 4 gelten nicht nur für den einzelnen selbst, sondern auch für die Religionsgemeinschaften als solche. Damit sind diese selbst grundrechtsfähig und insoweit auch berechtigt, Verfassungsbeschwerde wegen Grundrechtsverletzungen zu erheben. Als Gemeinschaften, als Gemeinde der Gläubigen, haben also auch sie den Freiheitsanspruch auf Glaubensüberzeugung, Glaubensbekenntnis und Glaubensbetätigung. Dies gilt auch für Vereinigungen, die mit Kirchen oder Religionsgemeinschaften organisatorisch oder institutionell verbunden sind, aber auch für andere selbstständige oder unselbstständige Vereinigungen, „wenn und soweit ihr Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist“.22 Dabei ist bei der Frage, was im einzelnen Religionsausübung ist, das Selbstverständnis dieser Religionsgemeinschaften im besonderen Maße zu beachten23; andererseits darf dieses – im Hinblick auf zwingende staatliche Sicherheits- und Gefahrenabwehrerfordernisse gegenüber extremistischen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften – nicht zu einer „Hypertrophie“24 des Grundrechts der Religionsfreiheit führen.25
Geschützt ist aber auch eine nur vereinzelt auftretende Glaubensüberzeugung, die von den offiziellen Lehren der Kirchen und Religionsgemeinschaften abweicht.26 Wer beispielsweise überzeugt ist, ihm sei durch eine Glaubensvorschrift jede Leistung eines Eides – einschließlich einer Fassung ohne religiösen oder transzendenten Bezug – untersagt (vgl. etwa Matth. 5, 33–37), kann als Zeuge vor Gericht unter Berufung auf Art. 4 die Eidesleistung verweigern, auch wenn diese Überzeugung nicht die Mehrheitsauffassung seiner Religions- oder Glaubensgemeinschaft ist. Aus dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat der Gesetzgeber die Konsequenz gezogen und den Zeugen im geltenden Prozessrecht die Möglichkeit einer „eidesgleichen Bekräftigung“ eröffnet. Die Möglichkeit einer Verweigerung der Eidesleistung unter Berufung auf religiöse Gründe hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen auch auf den Amtseid von Mandatsträgern ausgedehnt.27
4.Schranken der Religionsfreiheit
Fallbeispiel 2:
Am staatlichen Gymnasium in X. ist es üblich, dass täglich zu Beginn des Unterrichts ein gemeinsames überkonfessionelles Schulgebet gesprochen wird. Schülern und Schülerinnen, die nicht am Schulgebet teilnehmen wollen, ist es gestattet, dem Klassenraum während der Verrichtung des Gebets fernzubleiben. Die Eltern des zehnjährigen Siegfried S., der als Einziger in seiner Klasse nicht am Schulgebet teilnimmt, verlangen die Abschaffung des Schulgebets, weil Siegfried aufgrund seiner Nichtteilnahme in eine Außenseiterrolle gerate.
Muss das Schulgebet eingestellt werden?
Fallbeispiel 3:
Der freiberufliche Architekt Markus Möglich beantragt im Zusammenhang mit seiner Einkommensteuererklärung, „die Finanzbehörde möge in geeigneter Weise sicherstellen, dass die von mir gezahlte und noch zu zahlende Einkommensteuer keine Verwendung oder Mitverwendung für militärische Rüstungszwecke findet.“ Außerdem fordert er, dass die laufenden Einkommensteuervorauszahlungen entsprechend dem Anteil des Verteidigungshaushalts am Gesamthaushalt der Bundesrepublik Deutschland herabgesetzt, und falls dies nicht zulässig sei, ihm die Hinterlegung dieses Teils der Vorauszahlungen auf einem Sperrkonto gestattet werde. Zur Begründung führt er aus, dass es ihm sein Gewissen verbiete, diesen Teil der Steuern als mittelbaren Beitrag für Kriegszwecke zu leisten. Wie ist die Rechtslage?
a)Art. 4 garantiert die Religionsfreiheit dem Wortlaut nach ohne Einschränkung und untersteht – anders als z. B. das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 2 GG) – keinem Gesetzesvorbehalt. Dennoch gilt dieses Grundrecht nicht schrankenlos. Wie jedes Grundrecht trägt auch Art. 4 eine immanente Schranke (genauer: inhaltliche Bestimmung) in sich. Diese ergibt sich aus dem Umstand, dass die Religionsfreiheit Bestandteil der gesamten Verfassungsordnung ist. Nach dem Grundsatz der „Einheit der Verfassung“ ordnen sich die Grundrechte sowohl nach ihrem Gehalt als auch in ihrer Anwendung in die Grundlagen der Verfassung ein. Von daher erklärt sich die Bindung jeder Verfassungsbestimmung, und damit auch des Art. 4, an die sittlichen Grundlagen der grundgesetzlichen Wertordnung. Geschützt ist daher – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichtes – nicht „irgend eine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens, … sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat“28.
b)Einschränkungen durch Gesetze oder aufgrund eines Gesetzes sind nach dem Wortlaut des Art. 4 nicht möglich. Nur solche Grenzen sind gesetzt, die sich aus der Verfassung selbst29, also durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben. Dies können Grundrechte anderer sein oder mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen30 bzw. auch Gesetzesvorschriften, die derartige Verfassungspositionen deklaratorisch näher ausfüllen. Zu diesen Gemeinschaftsinteressen im Verfassungsrang zählen z. B.
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