Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland war im Parlamentarischen Rat ein gemeinsamer Antrag von CDU/CSU, Zentrum und Deutscher Partei, den ursprünglichen „Herrenchiemseer Entwurf“ um einen Kirchenartikel zu ergänzen, an föderalistischen Bedenken und an der Warnung gescheitert, die als Provisorium gedachte neue Verfassung zu überfrachten. Schließlich fand ein Vorschlag u. a. des FDP-Abgeordneten und späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss Zustimmung, die Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung in das Bonner Grundgesetz zu integrieren.
Unter dem Grundgesetz entfiel allerdings die in der Weimarer Zeit noch vorhandene besondere Staatsaufsicht für kirchliche Körperschaften im Sinne der Korrelatentheorie. Diese war mit dem neuen partnerschaftlichen und auf positive Zusammenarbeit ausgerichteten Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche, wie es von der damaligen staatskirchenrechtlichen Wissenschaft postuliert und auch in den neu geschlossenen Staatskirchenverträgen – beginnend mit dem für die niedersächsischen Landeskirchen vereinbarten Loccumer Vertrag von 1955 – fixiert worden ist, nicht mehr vereinbar. In diesem Kirchenvertrag ist nämlich erstmalig das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne eines echten partnerschaftlichen Miteinanders dokumentiert und der vor allem aus dem Missionsbefehl (Matth. 28, 18 ff.) und der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 abzuleitende kirchliche Öffentlichkeitsanspruch, also der aus dem Auftrag der Kirche begründete Anspruch auf öffentliche und gesellschaftliche Vernehmbarkeit und Wirksamkeit,3 wie er vor allem in der Predigt, aber auch insbesondere im diakonischen Handeln, in der Arbeit von Akademien, in kirchenleitenden Verlautbarungen und in Denkschriften des Rates der EKD4 zum Ausdruck kommt, von staatlicher Seite anerkannt worden.
Klaus Schlaich hat diesen Öffentlichkeitsanspruch wie folgt skizziert:
„Die Kirchen und die in ihnen versammelten Christen reden freimütig von der in Christus geoffenbarten Versöhnung Gottes mit der Welt und nehmen mit dem ihnen von daher aufgetragenen Dienst am Nächsten ein Stück Verantwortung für die Welt wahr. Mit der Anerkennung des Öffentlichkeitsanspruchs der Kirchen gibt das politische Gemeinwesen zu erkennen, dass es sich die öffentliche Verkündigung der Kirchen, die daraus resultierende Anrede als Gesellschaft und Staat und den sozialen Dienst der Kirchen gefallen lässt, diesen ernst nimmt, dessen begehrt und ihn fördert.“ 5
Vor allem deshalb lässt sich sagen, dass unbeschadet ihres veränderten Wortlauts die Weimarer Religionsartikel im Gefüge des Bonner Grundgesetzes einen Bedeutungswandel erfahren haben. Das Diktum des Staatskirchenrechtslehrers Rudolf Smends aus dem Jahr 1951, „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe“6, hat diese Neuausrichtung trefflich auf den Punkt gebracht. In der Folgezeit hat daran vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblichen Anteil gehabt.
Nach der Wiedervereinigung haben die wiederentstandenen Bundesländer im Osten Deutschlands, ebenso wie dies nach 1945 bereits in den meisten westlichen Bundesländern geschehen war, die Weimarer Religionsartikel entweder inhaltlich in ihre Verfassungen aufgenommen oder in Bezug genommen. Teilweise gehen sie darüber hinaus, wenn z.B. Art. 41 der Verfassung des Freistaats Thüringen und Art. 32 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt sich zur Gemeinnützigkeitsanerkennung und Förderung der von ihnen unterhaltenen sozialen und karitativen Einrichtungen bekennen. Allerdings zählte gerade das Staatskirchenrecht zu den besonders umstrittenen Themen in der Verfassungsdiskussion im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Angefragt waren auf politischer Seite vor allem das bundesdeutsche Kirchensteuersystem und der „Dritte Weg“ der Kirchen im Arbeitsrecht, seitens der östlichen Gliedkirchen der EKD zum Teil auch der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen und die Militärseelsorge. Zwar wurde in der Gemeinsamen Verfassungsreformkommission, die nach dem Einigungsvertrag eingesetzt wurde, der Vorschlag einer grundlegenden Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche gemacht. Die Mehrheit der Kommission hat indes keinen Anlass zu Änderungen des Staatskirchenrechts gesehen, sodass die gemeinsame Verfassungskommission in ihrem Abschlussbericht vom 5. November 19937 auch davon absah, entsprechende Empfehlungen abzugeben.
Von wesentlicher Bedeutung ist, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung8 die in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Religionsartikel als „voll gültiges Verfassungsrecht“ bezeichnet, welche dieselbe Normqualität wie die sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes haben. So sind also die Weimarer staatskirchenrechtlichen Artikel durch die Inkorporation in das Grundgesetz kein Verfassungsrecht zweiter Klasse. Sie stehen vielmehr im gleichen Rang wie jede andere Bestimmung des Grundgesetzes. Dementsprechend sind trotz ihres unterschiedlichen Standortes im Grundgesetz Art. 4 und Art. 140 als Einheit anzusehen. Diese beiden Grundvorschriften können mit Rücksicht auf ihren Sinngehalt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat nicht getrennt werden. In ganz wesentlicher Weise hat dabei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Bedeutungsgehalt der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen unseres Grundgesetzes mitbestimmt und näher entfaltet.
b)Säulen des Staatskirchenrechts
Es sind im Wesentlichen die folgenden tragenden Grundsätze („Säulen“), die unser staatskirchenrechtliches System bestimmen:
–die Religionsfreiheit (Art. 4 GG),
–die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche: „Es besteht keine Staatskirche.“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV),
–das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV; Gleichstellung der Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 137 Abs. 7 WRV),
–der Korporationsstatus (Kirchen- und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV),
–das Vertragsstaatskirchenrecht (vertragliche Regelungen zwischen Staat und Kirchen oder Religionsgemeinschaften, (vgl. z. B. den bayerischen Kirchenvertrag vom 15. November 1924 – RS 110 – und den auf Bundesebene vereinbarten Militärseelsorgevertrag vom 22. Februar 1957 – RS 192).
Dieses System zeichnet sich aus durch die Bestimmung des Staates
–als weltanschaulich religiös neutraler Staat (Grundsatz der Neutralität),
–der sich mit keiner auf seinem Gebiet vorhandenen Religion oder Weltanschauung identifizieren darf (Grundsatz der Nicht-Identifikation),
–der diese Religionen und Weltanschauungen formal gleich zu behandeln hat (Grundsatz der Parität), was freilich nicht ausschließt, dass an tatsächlich bestehende Unterschiede angeknüpft werden kann (z. B. Größe, Relevanz in der Öffentlichkeit usw.),
–der die Eigenständigkeit und die Selbstbestimmung der Kirchen und der Religionsgemeinschaften innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze anerkennt und gewährleistet und ihnen hierfür das Wirken in den Formen des öffentlichen Rechts ermöglicht,
–der schließlich allen seinen Bewohnern ein umfassendes Recht auf Religionsfreiheit zugesteht.
Der Staat anerkennt den Freiheitsbereich des einzelnen im religiösen Bereich. Dies muss er schon deshalb tun, weil ihm die Würde des Menschen vorgegeben und deren Schutz oberste staatliche Aufgabe ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Zu dieser Menschenwürde gehört notwendigerweise auch ein positiver – wie negativer – Transzendenz-Bezug. In dieser