Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner

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href="#ulink_84472ea0-37f7-58ed-853e-474f671cdc16">55 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann allerdings in besonders gelagerten Einzelfällen aufgrund einer individuellen Glaubens- und Gewissenshaltung eine Verletzung von Art. 4 gegeben sein, selbst dann, wenn „weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben und auch im Übrigen das Maß der in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden ,Identifikation‘ mit spezifisch christlichen Aussagen nicht derart ist, dass die Teilnahme … von andersdenkenden Parteien, Prozessvertretern oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird“. Andererseits besteht kein aus Art. 4 ableitbarer Anspruch auf Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen.

      Im Ergebnis umfassender Abwägung zwischen der von den Beschwerdeführern geltend gemachten Grundrechte, insbesondere zwischen ihrer negativen Religionsfreiheit und der positiven Religionsfreiheit der Eltern, Schüler und Schülerinnen christlichen Glaubens hat das Bundesverfassungsgericht damals bekanntlich die Beeinträchtigung der negativen Religionsfreiheit höher gewichtet als deren Rechte und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die – allgemein staatlich angeordnete – Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstoße. Entscheidungserheblich war die Annahme des Gerichts, dass im Zusammenwirken mit der allgemeinen Schulpflicht durch Kreuze in Unterrichtsräumen eine Situation der Unausweichlichkeit entstehe, die dazu führe, dass die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, „unter dem Kreuz“ zu lernen.

      In Reaktion auf diese Entscheidung verabschiedete der bayerische Gesetzgeber die geltende Regelung des Art. 7 Abs. 3 des BayEUG (RS 125), die zwar wiederum allgemein das Anbringen eines Kreuzes in Klassenzimmern, zugleich aber eine Widerspruchsmöglichkeit vorsieht.

      Bemerkenswert ist, dass sich zwischenzeitlich zu einem vergleichbaren Fall in Italien zweimal auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit einer Klage gegen das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern zu beschäftigen hatte. Während 2009 eine Kammer der zweiten Sektion des Gerichtshofs 2009 noch davon ausgegangen war, dass Kreuze/Kruzifixe in staatlichen Schulräumen die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK verletzten, hat die Große Kammer des EGMR der dagegen von der italienischen Regierung eingelegten Beschwerde mit Urteil vom 18. März 2011 stattgegeben und festgestellt:

      (4) Auf der Grundlage der zitierten Rechtsprechung ist – unbeschadet der politischen und kirchenpolitischen Diskussion über Sinnhaftigkeit, Notwendigkeit und Motivation dieser Regelung – die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der am 1. Juni 2018 in Kraft getretenen Änderung der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern zu beurteilen, wonach „im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes als Audruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen“ ist (Bayer. GVBl 2018, S. 281).

      Relevant ist hier wiederum insbesondere die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Darin hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Situation von Kreuzen in Klassenzimmern deutlich von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen unterschieden, weil dort nicht derselbe Grad von Unausweichlichkeit wie in der Schule oder auch im Gerichtssaal, wozu sich das Bundesverfassungsgericht bereits 1973 geäußert hatte (BVerfGE 35, 366), gegeben sei. Das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1995 wörtlich: „Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Manifestationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang.“ Wegen der also in der Regel nur flüchtigen und deutlich weniger geringeren Intensität der Begegnung mit dem Kreuzsymbol beim Betreten eines Amtsgebäudes als im Klassenzimmer dürfte die neue bayerische Regelung somit verfassungsrechtlich zumindest vertretbar sein.


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