Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
href="#ulink_84472ea0-37f7-58ed-853e-474f671cdc16">55 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann allerdings in besonders gelagerten Einzelfällen aufgrund einer individuellen Glaubens- und Gewissenshaltung eine Verletzung von Art. 4 gegeben sein, selbst dann, wenn „weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben und auch im Übrigen das Maß der in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden ,Identifikation‘ mit spezifisch christlichen Aussagen nicht derart ist, dass die Teilnahme … von andersdenkenden Parteien, Prozessvertretern oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird“. Andererseits besteht kein aus Art. 4 ableitbarer Anspruch auf Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen.
(2) Anlass der kontrovers56 diskutierten sog. „Kruzifix-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 (BVerfGE 93,1) war eine in der früheren bayerischen Volksschulordnung enthaltene Regelung, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen war.57 Diese ist im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde von Anhängern der anthroposophischen Weltanschauung mit der Begründung angegriffen worden, dass das Kreuz-Symbol, insbesondere aber die Darstellung eines „sterbenden männlichen Körpers“ in den von ihren Kindern besuchten Unterrichtsräumen unter Verletzung ihres elterlichen Erziehungsrechts und ihrer Glaubensvorstellungen im Sinne des Christentums unzulässigerweise auf ihre Kinder einwirke.
Im Ergebnis umfassender Abwägung zwischen der von den Beschwerdeführern geltend gemachten Grundrechte, insbesondere zwischen ihrer negativen Religionsfreiheit und der positiven Religionsfreiheit der Eltern, Schüler und Schülerinnen christlichen Glaubens hat das Bundesverfassungsgericht damals bekanntlich die Beeinträchtigung der negativen Religionsfreiheit höher gewichtet als deren Rechte und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die – allgemein staatlich angeordnete – Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstoße. Entscheidungserheblich war die Annahme des Gerichts, dass im Zusammenwirken mit der allgemeinen Schulpflicht durch Kreuze in Unterrichtsräumen eine Situation der Unausweichlichkeit entstehe, die dazu führe, dass die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, „unter dem Kreuz“ zu lernen.
In Reaktion auf diese Entscheidung verabschiedete der bayerische Gesetzgeber die geltende Regelung des Art. 7 Abs. 3 des BayEUG (RS 125), die zwar wiederum allgemein das Anbringen eines Kreuzes in Klassenzimmern, zugleich aber eine Widerspruchsmöglichkeit vorsieht.
Bemerkenswert ist, dass sich zwischenzeitlich zu einem vergleichbaren Fall in Italien zweimal auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit einer Klage gegen das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern zu beschäftigen hatte. Während 2009 eine Kammer der zweiten Sektion des Gerichtshofs 2009 noch davon ausgegangen war, dass Kreuze/Kruzifixe in staatlichen Schulräumen die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK verletzten, hat die Große Kammer des EGMR der dagegen von der italienischen Regierung eingelegten Beschwerde mit Urteil vom 18. März 2011 stattgegeben und festgestellt:
„Das Anbringen von Kruzifixen macht die Mehrheitsreligion des Landes in der Schule besonders sichtbar. Das allein ist keine Indoktrinierung. Das Kruzifix ist ein wesentlich passives Symbol. Die italienischen Behörden und Gerichte haben bei ihrer Entscheidung, es in Klassenzimmern zu belassen, den ihnen zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten.“58
(3) Im Hinblick auf die positive Religionsfreiheit, auf die sich unbeschadet ihres staatlichen Anstellungsverhältnisses auch Lehrkräfte berufen können, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner vom 27. Januar 2015 (BVerfGE 138, 296) unter teilweiser Distanzierung von einer früheren Entscheidung (BVerfGE 108, 282) festgestellt, dass ein allgemeines Kopftuchverbot für staatliche Lehrkräfte ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 GG und unverhältnismäßig sei. Das Einbringen religiöser Bezüge in Schule und Unterricht durch pädagogisches Personal könne zwar den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), das elterliche Erziehungsrecht (Art. 7 Abs. 2 GG) und die negative Religionsfreiheit der andersgläubigen Schüler und Schülerinnen (Art. 4 GG) beeinträchtigen. Eine nur abstrakte Gefahr der Beeinträchtigung dieser Verfassungsgüter reiche aber nicht aus, um ein Verbot zu rechtfertigen. Erforderlich sei vielmehr eine konkrete Gefährdung. In diesem Sinne sei die Grenze zu einer konkreten Gefährdung überschritten, wenn die Lehrkraft über das äußere Erscheinungsbild hinausgehende Werbung für den eigenen Glauben betreibe und die Schüler und Schülerinnen im Sinne ihrer Glaubensüberzeugungen einseitig beeinflusse.59
Mit Recht ist auch diese Entscheidung heftig kritisiert worden.60 Insbesondere ist es im Hinblick auf die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 nicht nachvollziehbar, dass, wenn es nun auf eine im Einzelfall gegebene konkrete, nicht mehr aber auf eine nur abstrakte Gefährdung der negativen Religionsfreiheit durch die Verwendung religiöser Symbolik ankommen soll, das Kreuz im Klassenzimmer unter dem Gesichtspunkt der religiösen Neutralität des Staates relevanter sein soll als das Kopftuch der Lehrerin.
(4) Auf der Grundlage der zitierten Rechtsprechung ist – unbeschadet der politischen und kirchenpolitischen Diskussion über Sinnhaftigkeit, Notwendigkeit und Motivation dieser Regelung – die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der am 1. Juni 2018 in Kraft getretenen Änderung der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern zu beurteilen, wonach „im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes als Audruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen“ ist (Bayer. GVBl 2018, S. 281).
Relevant ist hier wiederum insbesondere die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Darin hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Situation von Kreuzen in Klassenzimmern deutlich von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen unterschieden, weil dort nicht derselbe Grad von Unausweichlichkeit wie in der Schule oder auch im Gerichtssaal, wozu sich das Bundesverfassungsgericht bereits 1973 geäußert hatte (BVerfGE 35, 366), gegeben sei. Das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1995 wörtlich: „Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Manifestationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang.“ Wegen der also in der Regel nur flüchtigen und deutlich weniger geringeren Intensität der Begegnung mit dem Kreuzsymbol beim Betreten eines Amtsgebäudes als im Klassenzimmer dürfte die neue bayerische Regelung somit verfassungsrechtlich zumindest vertretbar sein.
Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, dass aufgrund der, wie dargestellt, im Vergleich zum Klassenzimmer deutlich geringeren Intensität der Begegnung dies erst recht für das Kreuz im Eingangsbereich von Behörden gelten dürfte.61 Diese Einschätzung lässt sich zusätzlich mit der auf eine konkrete Gefahr abstellenden zweiten Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, aber auch mit der Kruzifix-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2011 bekräftigen.
6.Verhältnis zu Art. 140 GG und zu Art. 9 EMRK
a)Soweit das Grundrecht aus Art. 4 nicht individual-, sondern auch kollektivrechtlich verstanden wird, also z. B. auch den Religionsgemeinschaften selbst zusteht, wird Art. 4 ergänzt durch die institutionellen Garantien in Art. 140 GG i. V. m. den Weimarer Religionsartikeln (Art. 136–139, 141). Zwar ist ein bestimmter Kernbereich des kirchlichen Lebens und Wirkens bereits durch Art. 4 geschützt. Die Kirchenfreiheit in Art.