Josephine Baker. Mona Horncastle
betritt die Bühne
„Ich wurde Tänzerin, weil ich in einer kalten Stadt geboren bin und während meiner ganzen Kindheit entsetzlich gefroren habe.“
Ihre ersten Shows inszeniert Josephine schon mit knapp sechs Jahren im Keller des Hauses ihrer Mutter in St. Louis, wie eine Schulfreundin, Joyce McDuffy, berichtet: „Thumpie konnte ziemlich nerven. Ständig machte sie sich über andere Kinder lustig und streckte ihnen die Zunge heraus. Sie war immer schmutzig, aber das bekümmerte sie nicht. In der Schule spielte sie uns ständig kleine Streiche, schielte und machte Grimassen, die uns Schüler zwar zum Lachen brachten, aber eben auch den Unterricht störten.“17 Von ihren Lehrern lässt Josephine sich nicht bändigen, und ihr Mitschüler-Publikum liebt sie dafür.
Gemeinsam mit Joyces älterem Bruder, Robert, bringt sie eine Show für die Nachbarskinder auf die Bühne. Im Keller improvisieren sie die McDuffy’s Pin and Penny Poppy Show. Für eine Nadel oder einen Penny darf man ihnen beim Tanzen zusehen. Die Nadeln werden gebraucht, um die Bühnendekoration und die Kostüme zu drapieren, Pennys sind eher selten. Josephines Version, dass sie immer getanzt hat, um nicht zu frieren, ist eine typisch wirkungsvolle Verkürzung ihrer Lebensgeschichte. Joyces Erinnerung ist differenzierter: „Robert war der große Produzent, der die Aufführungen plante und am Eingang kassierte. Thumpie und ich bekamen nichts für unsere Auftritte, aber wir liebten sie. Wir beide stellten uns vor, später einmal Tänzerinnen zu werden.“18
Im Wachsfigurenkabinett auf Schloss Les Milandes, das ein Josephine-Baker-Museum beherbergt, sind Szenen aus Josephines Leben nachgestellt. Hier eine Szene, wie sie im Keller in St. Louis für Nachbarskinder tanzt.
Josephine mit schwarz geschminktem Gesicht in der Broadway-Show „The Chocolate Dandies“, 1924.
Exkurs: Vaudeville
Zwischen 1880 und dem Aufkommen des Tonfilms in den 1920er-Jahren blüht in den USA die Unterhaltungsindustrie des Vaudeville – eines bunten Theatermix’ aus Musik, Tanz, Komik und Akrobatik –, das sich seit dem Ende des Bürgerkriegs auch von Schwarzen für Schwarze etablieren kann. Hinzu kommt ein Entwicklungssprung der populären Musik, die etwas später Jazz heißen wird und aus den schwarzen Musiktraditionen des Spirituals, Gospels, Blues und der Straßenmusik der New Orleans Marching Bands hervorgeht und von den Südstaaten auf die Musik in ganz Amerika ausstrahlt.
Bereits 1893 publiziert Antonín Dvořák darüber eine interessante Beobachtung während seines dreijährigen USA-Aufenthalts: „Ich bin inzwischen überzeugt, dass die zukünftige Musik dieses Landes auf den sogenannten Negermelodien gründen muss. Hier muss das wahre Fundament jeder ernsthaften und eigenständigen Kompositionsschule liegen, die in den Vereinigten Staaten entwickelt werden soll. (…) Alle großen Musiker haben Anleihen bei der Musik der einfachen Leute gemacht. (…) In den Negermelodien Amerikas entdecke ich alles, was für eine große und edle Schule der Musik von Nöten ist. Sie ist pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, ernst, religiös, kühn, heiter, fröhlich, was immer man will. Es handelt sich um eine Musik, die sich jeder Stimmung, jedem Zwecke anpassen kann. Im gesamten Bereich der Komposition gibt es nichts, was sich nicht aus den Themen dieser Quelle schöpfen ließe.“19
Eine ähnliche Analyse formuliert Leonard Bernstein 1939 als Harvard-Absolvent in seinem Essay „The Absorption of Race Elements into American Music“,20 wobei er neben der fruchtbaren Kombination musikalischer Quellen und Traditionen vor allem auch die positive Wirkung der schwarzen Musik auf die afroamerikanische Bevölkerung betont, deren Selbstbewusstsein durch die Akzeptanz ihres kulturellen Erbes des weißen Amerikas gestärkt wird. Doch Bernstein stellt auch die Frage, wie die Kultur eines Zehntels der Bevölkerung, noch dazu einer rassistisch unterdrückten und verfolgten Minderheit, einen solchen Einfluss gewinnen konnte, und geht über Dvořák Analyse hinaus: Er erkennt zwar auch an, dass analog zur europäischen Tradition der Klassik, die organisch aus nationalen Wurzeln gewachsen ist, indem Volkslieder als Kompositionsquellen dienten, in Amerika die spirituell aufgeladene Musik der Schwarzen Eingang in „das allgemeine, gemeinsame amerikanische Musikmaterial“ findet. Er geht aber über diese, auf das Material konzentrierte Sichtweise hinaus, weil er in dem freien Umgang mit diatonischen Tonleitern, dem Verzerren von Klangfarben und den sich überlagernden Rhythmen des Jazz den Erneuerungswillen der amerikanischen Gesellschaft entdeckt. Daraus resultiert eine gesamtgesellschaftliche Relevanz der Jazzmusik für Amerika.21
In St. Louis setzt der Einfluss durch Musiker aus New Orleans – der Wiege des Jazz – um 1900 ein. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 sind die Mississippidampfer das Transportmittel von Gütern und für Reisende – für Besitzer und Betreiber der River Boats eine wahre Goldgrube. Doch während der fünf Kriegsjahre stagniert der Verkehr und danach verlagert sich das Transportgeschäft auf die Schienen der neuen Bahntrassen. Findige Unternehmer aus St. Louis, wie etwa die Brüder Strekfus, ändern darum ihr Geschäftsmodell und wandeln ihre Transportschiffe in Ausflugsdampfer um, jeder mit einer festen Band an Bord, um die Reisenden zu unterhalten. Zu Beginn setzen die Strekfus auf Musiker aus ihrer Heimatstadt, doch mit wachsendem Erfolg engagieren sie einen ihrer Bandleader, Fate Marable, als Talentscout. Die Strekfus Line bringt über die Jahre die Pioniere der Jazzmusik von New Orleans nach St. Louis: Warren „Baby“ Dodds, der erste bedeutende Schlagzeuger des Jazz, sein Bruder Johnny Dodds, Klarinettist, Pops Foster, einer der ersten bedeutenden Jazz-Bassisten, und schließlich 1919 Louis Armstrong.
In St. Louis ist der Old Chauffeur’s Club einer der Hotspots für schwarze Entertainer. Etwa ab 1920 hört Josephine dort, während sie kellnert, die besten Musiker spielen, das Programm der Hausband, der Powell’s Jazz Monarchs, und die Improvisationen der Gäste, die spontan zu ihren Instrumenten greifen und singen. An ihren freien Sonntagen besucht sie das Booker T. Washington Theatre, ein Vaudeville für Schwarze. Hier treten die Dixie Steppers auf und viele der Shows, die durch das Land tingeln, geben ihre Gastspiele. Seit 1920 organisiert vor allem die Theatre Owners‘ Booking Association Auftritte von schwarzen Künstlern im Süden und Mittelwesten und prägt das Entertainment mit so großem Erfolg, dass bald weiße Künstler die Unterhaltungsform des Vaudevilles übernehmen und salonfähig machen. Die Zeit für ein schwarzes Mädchen, als Showgirl Erfolg zu haben, ist Anfang des 20. Jahrhunderts nicht die schlechteste, und St. Louis ist ein idealer Ort, eine Karriere zu starten.
Im Old Chauffeur’s Club gewöhnt sich Josephine an, die Gäste mit kleinen Showeinlagen zu unterhalten, die sie den Profis abschaut und auf ihre Weise interpretiert. Die knapp Vierzehnjährige entdeckt die Wirkung der Koketterie. Sie singt Liedzeilen nach, tanzt dazu ein paar Schritte und schneidet Grimassen – sehr zum Amüsement des Publikums und sehr zum Gefallen von Old Jones. Old Jones ist der Saxofonist eines Trios, das unter dem Namen The Jones Family Band durch die Straßen tingelt, ohne festes Engagement, aber mit einem recht gut funktionierenden Erfolgsrezept: Die Jones Family positioniert sich vor den Eingängen zu den Theatern der Stadt und unterhält die Wartenden, solange sie vor dem Einlass Schlange stehen. Old Jones sieht in Josephine eine Bereicherung seiner Show und sie akzeptiert ohne zu zögern sein Angebot, kündigt ihren Job im Old Chauffeur’s Club und wird Teil der Jones Family.
Die Zwischenschritte in der sich von nun an rasch entwickelnden Karriere von Josephine sind von zahlreichen Legenden überlagert, denn nahezu jeder, der in den Anfängen mit ihr gearbeitet hat, beansprucht im Nachhinein seinen Anteil an ihrem Erfolg. Fakt ist, dass Josephine als Vierzehnjährige 1920 ihre ersten Auftritte im Booker T. Washington Theatre hat, weil dessen Manager, Red Bernett, sich in einer Notsituation befindet: Er hat die Dixie Steppers engagiert, deren Komikerpaar sich beim letzten Gastspiel allerdings zerstritten hat und die nun mit einer Nummer zu wenig in St. Louis ankommen. Die Jones Family, die er kennt, weil sie regelmäßig vor seinem Haus spielt, soll diese Lücke füllen. Jahre später beschreibt er Josephines Auftritte überzeichnet: „Sie wirkte so winzig, wenn sie vor der Menge