Gut, mensch zu sein. Klaus Schwertner

Gut, mensch zu sein - Klaus Schwertner


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eine fairere und gerechtere Welt zu hinterlassen. Dazu ist es nicht nötig, zur Heldin oder zum Helden zu werden. Es kann schlicht und einfach genügen, uns immer und immer wieder in Erinnerung zu rufen: Es ist gut, Mensch zu sein.

       Klaus Schwertner, Frühling 2021

      Ohne Krise kein Happy End

      Diesen Moment habe ich nicht kommen sehen. Dabei kam die Krise nicht aus dem Nichts, sondern mit Anlauf. Die ersten Meldungen erreichten uns im Januar 2020, mehrere Wochen, bevor es tatsächlich ernst wurde. Doch, dass es ernst werden würde, wollten die meisten von uns nicht sehen. Ich weiß nicht, ob es ein nicht „wollen“ oder ein nicht „können“ war – ein Mangel an Fantasie oder die Angst vor der anrollenden Gefahr. Zu dystopisch schien die Vorstellung, dass ein unbekanntes Virus unsere Gesellschaft mir nichts, dir nichts aus den Angeln heben könnte. Unvorstellbar. Kurze Zeit später schon werden wir uns zur Begrüßung und zum Abschied nicht mehr die Hand geben, unsere Liebsten nicht mehr umarmen. Die Straßen leergefegt. Geschlossene Geschäfte, Hotels, Kaffeehäuser und Restaurants. Homeoffice und Videokonferenzen. Homeschooling und Distance Learning. Nicht nur unser Land, die ganze Welt befand sich im Lockdown. Das Coronavirus stellt uns und die Art und Weise, wie wir bislang lebten, mit einem Federstreich infrage. Was bislang galt und unverrückbar schien, steht plötzlich zur Disposition. Wir machen die Erfahrung, dass wir verdammt verletzlich und angreifbar sind. Als Gesellschaft, über Grenzen und Kontinente hinweg – eine gesellschaftliche Nahtoderfahrung.

      Wir erlebten in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten eine regelrechte Inflation an Krisen. Finanz- und Wirtschaftskrise: krachende Banken, schwankende Staaten. Flucht- und Migrationskrise: unfassbares Leid und überforderte Behörden. Die Klimakrise: Hitze, Artensterben, Gletscherschwund und die Unfähigkeit, diese Krise entschieden und konsequent gemeinsam zu bekämpfen. Als Nächstes also Corona. Die vier apokalyptischen Krisenreiter. Die Offenbarung unserer jüngeren Geschichte. War in den Nullerjahren eigentlich irgendwann mal keine Krise? Irgendwas war doch immer: Terror in den USA und in Europa, Krieg in Syrien, der Ukraine und in Afghanistan, die Erosion des Politischen, die Zweifel an der Demokratie und der rasante Aufstieg des Populismus. Trump und Brexit. Ibiza und Orbán. Und über allem eine veritable Krise des Vertrauens: in Wissenschaft und Glauben, in Politik, Medien und Wirtschaft. Als würde uns der Boden, auf dem wir bis vor Kurzem noch so sicher und trittfest standen, regelrecht unter den Füßen weggezogen. Das Ende der Gewissheit, gefolgt von einer großen Unsicherheit.

      Ich frage mich in solchen Augenblicken oft: Was bleibt? Was hat noch Bestand, wenn wir alle spüren, dass das Alte nur noch bedingt Gültigkeit besitzt, das Neue aber noch nicht greifbar ist – wenn wir also mittendrin stecken in einer grundlegenden Zeit der rasanten Veränderung, in einer Zeit, in der die Karten neu gemischt werden? Aus meinem persönlichen Umfeld weiß ich: Es gibt viele Menschen, die angesichts dieser Entwicklungen das Grundvertrauen in unseren Weltenzusammenhang zu verlieren drohen. Die Zuversicht und den Glauben, dass sich die Dinge zum Guten oder zumindest zum Besseren entwickeln können. Dass wir bei allem, was schwierig ist, in einer guten Welt und einem wunderschönen Land leben. Dass wir gemeinsam einen Weg aus diesen Krisen finden können – und werden.

      Ich verstehe das. In seltenen Momenten beschleichen mich diese Zweifel, Sorgen und Ängste genauso. Meist dann, wenn ich spätabends im Bett liege und in den umliegenden Zimmern meine Kinder friedlich schlafen. Es ist die Welt, in die sie hineinwachsen. Die Welt, die wir ihnen hinterlassen. Wenn die Zukunft nicht zuallererst offen und im besten Fall verheißungsvoll, sondern düster und eher bedrohlich wirkt, dann macht das etwas mit uns Menschen. Es lässt uns straucheln.

      Nicht zu wissen, was kommt, das Gefühl von Unsicherheit und Kontrollverlust halten wir nur sehr schwer aus. In unserer stark regulierten Gesellschaft unternehmen wir in der Regel alles, um Risiken zu minimieren, um auf Basis von Wahrscheinlichkeiten unsere Zukunft vorherzusehen. Und heute wissen – oder zumindest erahnen – wir, dass sich diese Zukunft nicht mehr so einfach aus der Vergangenheit ableiten lässt. Was gestern galt, kann morgen schon ganz anders sein. Sogar das Wort Momentaufnahme hat während der Corona-Krise eine ganz neue Bedeutung bekommen.

      Hand aufs Herz: Wer hätte es vor wenigen Jahren schon für möglich gehalten, dass ein unbekanntes Virus weite Teile unserer Welt aus den Angeln heben würde? Wer hätte darauf gewettet, dass die Vereinigten Staaten, „the land of the free“, schon bald von einem irrlichternden und gefährlichen Populisten via Twitter regiert werden würden? Dass es Anfang 2021 einen Sturm von einem wildgewordenen Mob auf das Kapitol in Washington, D.C., geben könnte? Dass unsere britischen Nachbarn die EU verlassen? Dass in der Ukraine – und damit mitten in Europa – Krieg wahrscheinlicher scheint als Frieden? Wer hielt es vor der Finanz- und Wirtschaftskrise ernsthaft für möglich, dass wir plötzlich vor der Frage stehen würden, ob man Griechenland abwickeln könne, wie den sterbenden Greißler ums Eck? Man braucht keinen Abschluss in Zeitgeschichte, um festzustellen: Der Blick in die jüngere Vergangenheit ist nicht gerade das, was uns Lust auf Zukunft macht. Das Dumme an solchen Gedankenspielen: Apokalypse nervt, sie quält und sie lähmt. Und erlebten wir nicht auch Jahrzehnte des Wohlstands in Österreich, Jahrzehnte des friedvollen Miteinanders in Europa (mit Ausnahme des schrecklichen Kriegs am Balkan), und gelang es uns nicht gerade in den vergangenen Jahrzehnten, den Hunger in der Welt und die Kindersterblichkeit maßgeblich zu reduzieren? Diese Tatsachen vor Augen, stelle ich mir immer wieder die Frage, ob das Gerede vom Weltuntergang nicht einfach auch ein verdammt alter Hut ist. Das Ende ist nah! So hieß es in der Vergangenheit schließlich schon zu oft. Der deutsche Journalist Malte Henk machte sich die Mühe, einige angekündigte Weltuntergänge der Vergangenheit aufzuschreiben.

      Mit dem Ausbruch der Pest im 14. Jahrhundert etwa wähnten viele Menschen in Europa das Ende der Zeit gekommen. Die Zeugen Jehovas erwarteten bis zum Jahr 1975 knapp neun Mal den Beginn des Weltuntergangs. 1997 dann der Massenselbstmord einer Sekte in den USA. Die Geschichte war kompliziert: Der Guru brauchte ein Ufo, doch an Bord gelangte nur, wer sich zuvor suizidierte. Im Mai 2012 sagten bei einer Umfrage in 21 Ländern immerhin ganze acht Prozent der Befragten, sie rechneten mit dem Ende der Welt noch im selben Jahr. Dann der Maya-Kalender und das angebliche Ende im Juni 2020. Auch schon vorbei und überlebt. All diese Offenbarungen mit den tatsächlichen Bedrohungsszenarien der heutigen Zeit gleichzusetzen verbietet sich natürlich. Aber sind sie nicht auch Ausdruck einer gewissen Angstlust, die auch heute wieder um sich greift? Warum sind wir so verdammt stark darin, uns zu fürchten? Und warum glauben wir in diesen Augenblicken der Krise lieber an die Apokalypse statt an Utopien? Wäre nicht der Moment der Krise genau der richtige Zeitpunkt und ein Ausgangspunkt, um von einer besseren Zukunft zu träumen?

      Als der englische Schatzkanzler Thomas Morus im frühen 16. Jahrhundert seine Vision von Utopia verfasste, darin von der Gleichheit der Menschen schrieb und feudale Vorrechte literarisch abschaffte, hätten Utopie und Wirklichkeit kaum weiter auseinanderliegen können. England war zu dieser Zeit stark von sozialer Ungleichheit geprägt. Es herrschte extreme Armut in der Bevölkerung. Die Menschen bettelarm, wenig gebildet und geknechtet. Und doch: Mit dem Aufkommen des Humanismus, dem Zeitalter der Menschen, waren die Horizonte plötzlich offen. Eine andere Welt schien möglich.

      Vielleicht ist es also doch auch so, dass Krisen unsere Fantasie beflügeln können. Vielleicht ist Hoffnung eine Quelle, die gerade auch im Dunkeln fließt. Daran schließt auch eine Erfahrung an, die nicht nur ich persönlich immer wieder mache, sondern die vermutlich jede und jeder auf die eine oder andere Weise schon erlebt hat: Gerade in Krisensituationen gelingt es uns Menschen, ungeahnte Kräfte zu mobilisieren, ein hohes Tempo zu gehen, mit voller Energie und mit letztem Einsatz zu versuchen, möglichst viele Dinge gemeinsam zum Positiven zu verändern – Dinge, die zuvor aus guten Gründen oder einfach aus Gewohnheit und „weil es immer schon so war“ noch unmöglich waren. Als klar war, dass das Virus die Insel Österreich nicht verschonen würde, als sich die Intensivstationen in Italien und Spanien rasch füllten und erste Pflegewohnhäuser in Frankreich und Belgien zu Corona-Clustern


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