Gut, mensch zu sein. Klaus Schwertner

Gut, mensch zu sein - Klaus Schwertner


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Ich wusste nicht, was uns erwarten würde. Ich wusste aber von Beginn an, dass uns diese Krise ganz grundlegend verändern wird. Ich fürchtete diese Veränderung mehr als das Virus selbst. Während der ersten Tage verfiel ich in eine große Passivität. Ich starrte auf die Ereignisse, verfolgte die Nachrichten, als würde ich Zeuge einer großen Naturkatastrophe. Gebannt von den Naturgewalten, die freigesetzt werden. Unfähig, darauf zu reagieren. Damit beschäftigt, zu verarbeiten, was sich gerade vor meinen Augen abspielte. Rückblickend war dieser Moment, der eine gefühlte Ewigkeit zurückliegt, vielleicht auch jener Augenblick, an dem ich zuletzt tief Luft holen konnte – nicht wissend, was als Nächstes alles passieren würde, aber überzeugt, dass wir auch als Hilfsorganisation massiv gefordert sein werden. Es war in gewisser Weise ein letztes Luftholen und Durchatmen vor dem Sprint, der vor mir lag. Nicht ahnend, dass es sich nicht um einen Kurzstreckenbewerb, sondern um einen Ultramarathon handeln würde.

      Augenblicke wie diesen habe ich schon mehrfach erlebt. Der Moment, in dem sich ein Schalter in mir umlegt. Raus aus der Passivität, rein ins Tun. Irgendwas tun – sei es, um etwas zu verhindern oder etwas anderes zu ermöglichen, oder sei es nur, um das Gefühl niederzuringen, dass ich dem Geschehen um mich herum hoffnungslos ausgeliefert bin. Deshalb beginne ich zu laufen. Schnell zu laufen. Wie Forrest Gump im gleichnamigen Film. Ich beginne Möglichkeiten zu sehen, wo andere die Gefahr wähnen. Ich sehe Chancen, wo andere zur Vorsicht mahnen. Ich bewege mich, wo andere erstarren. Woran das liegt, weiß ich nicht genau. Vielleicht daran, dass ich in den vergangenen Jahren mit jeder Krise – ganz gleich, wie groß sie war, ob im Job oder im Privaten – auch die Erfahrung gemacht habe, dass in der Krise eben nicht nur das Risiko größer und die Gefahren mehr werden, sondern auch die Chancen und Möglichkeiten. Plötzlich sind Dinge möglich, die zuvor unverrückbar und in Stein gemeißelt waren. Unsere Gesellschaften werden durch Regelwerke zusammengehalten. Sie geben uns Stabilität und Orientierung. Sie geben uns Struktur. Doch in Krisen gehen viele dieser Regeln über Bord, sind hinderlich und störend. Ich verstehe, dass das sehr vielen Menschen Angst macht. Doch ich glaube, es kann auch sein Gutes haben, weil in einem Regelvakuum zugleich immer etwas Neues entstehen kann.

      Das Gerede von der „Krise als Chance“ nervt. Und es ist auch zu banal. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Zu gut weiß ich, dass Krisen für viele Menschen immer auch existenzbedrohend sind, Schmerz, Leid und bittere Armut bedeuten. Egal ob Krieg, Klima-, Corona- oder Wirtschaftskrise. Aber vielleicht sind wir oft erst dann imstande zu handeln, wenn wir zu verlieren glauben, was uns wichtig ist, wenn viel auf dem Spiel steht und wir uns klar darüber werden, dass es nicht mehr viele Gelegenheiten gibt, um das Ruder noch herumzureißen und die Segel neu zu setzen. Vielleicht gibt es ohne Krise überhaupt kein Happy End!

      Doch was bedeutet das für das Hier und Jetzt – in einer Phase, in der uns dämmert, dass die größte aller Utopien – die Mär von einem unendlichen Wachstum auf einem endlichen Planeten – nicht hält? Viele sehen bereits das Zeitalter des Anthropozäns gekommen. Ein neuer Epochenbegriff wird populär. Er besagt, dass der Horizont, vor dem wir handeln, nicht mehr offen ist. Humanismus war Verheißung. Anthropozän ist Abgesang. Der Hinweis, dass wir uns mit Riesenschritten den planetaren Belastungsgrenzen nähern. Mit der Ausbeutung der Natur, der fortschreitenden Industrialisierung und mit der Globalisierung hat der Mensch begonnen, die Regeln, nach denen dieser Planet tickt, selbst zu verändern. Die Klimakrise ist real! Und wir wissen es seit langer Zeit. Anders als im Fall der Corona-Krise kündigt sich diese Katstrophe bereits seit Jahrzehnten an. Die Fakten liegen schon lange auf dem Tisch. Seit der Konferenz von Rio im Jahre 1992 ist klar: Der Punkt, an dem die Gleichgewichts- und Reparatursysteme von Flora und Fauna nicht mehr funktionieren, ist bald erreicht. In Paris verpflichteten sich 2015 alle Staaten der Welt zum Klimaschutz, definitiv ein historischer Moment, doch den Worten und Dokumenten von damals hinken die Taten bis heute dramatisch hinterher.

      Ich glaube, die einfache Erkenntnis, dass unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten nicht möglich ist, beginnt erst langsam einzusickern. Nicht nur in die Köpfe der Politikerinnen und Politiker, sondern auch in unser aller Köpfe.

      Stéphane Hessel beschäftigt sich in seinem Buch „Engagiert euch!“ unter anderem mit der Erkenntnis, dass der Schutz der Natur ebenso wichtig sein muss wie die Wahrung der Menschenrechte. Für die Zukunft sieht er demnach die Rechte der menschlichen Person und der Natur als gleichberechtigt nebeneinander. Doch noch immer haben wissenschaftliche Fakten erstaunlich wenig Einfluss auf unser Handeln. Das Leid, dass infolge der Pandemie keine Billigflüge mehr möglich waren, überwiegt. Noch. Wir schließen die Augen und hoffen, dass es schon nicht allzu heiß, dass die Meere nicht allzu stark steigen werden. Warum sollte morgen nicht mehr funktionieren, was gestern noch kein Problem war?

      Doch vielleicht gibt es auch für diese Krise ein Happy End. Krisen sind Zeiten, in denen Menschen mehr als sonst bereit sind, geliebte Gewohnheiten und über Generationen Gelerntes zu hinterfragen – „das System“, vielleicht auch sich selbst. Neue Gedanken, neue Ideen können wachsen, Kräfteverhältnisse können sich verändern, was gestern noch Nische war, irritierend und seltsam wirkte, kann morgen schon Mainstream sein. Wer heute „Klimakrise“ sagt, der kann auch „Fridays for Future“ sagen. Wer heute vor einer polarisierten und unsolidarischen Gesellschaft warnt, der kann auch von der großen Welle der Hilfsbereitschaft berichten, die wir seit Ausbruch der Pandemie erleben. Tausende neue Freiwillige meldeten sich in der Corona-Krise allein bei der Caritas. Nachbarinnen und Nachbarn gehen füreinander einkaufen. Kinder schreiben Briefe an alte Menschen, selbst dann, wenn es nicht die eigenen Großeltern sind. Die überwiegende Mehrheit geht diszipliniert durch diese Zeit, auch wenn sich mit zunehmender Dauer der Krise Erschöpfung und Müdigkeit, Gereiztheit und Empörung breitmachen. Wir halten Abstand und bleiben uns dennoch innerlich nahe.

      Ja, wir stehen in vielerlei Hinsicht an einem Scheideweg. Aber es liegt an uns, das Gute zu erkennen, darauf aufzubauen und es zu stärken. Das ist uns historisch immer wieder gelungen. Es ist nicht bequem, es ist oft mühsam, anstrengend und sogar zeitweise frustrierend. Und vieles spricht dafür, dass es auch in absehbarer Zukunft ungemütlich bleibt. Doch das Match ist offen. Es geht um die Frage, für welche Richtung wir uns entscheiden. Welche Dinge wir stärken, auf welcher Seite wir stehen wollen.

      Gerade die Erfahrung der Corona-Krise zeigt uns, dass so vieles möglich ist, wenn auf den ersten Blick nichts mehr geht. Papst Franziskus warnte bereits im Jahr 2013 vor einer „Wirtschaft, die tötet“, und wurde dafür stark kritisiert. Wenige Monate später schrieb er in einer Botschaft zum Auftakt des Weltwirtschaftsforums in Davos, dass „der Mensch im Mittelpunkt stehen muss, nicht der Drang nach Macht oder Profit“. Galt für Jahrzehnte das Primat der Wirtschaft über die Politik, so waren Regierungen plötzlich aufgrund der Pandemie in der Lage, (auch schmerzliche und extrem weitreichende) Entscheidungen zu treffen, die zuvor unter Hinweis „auf die Märkte“ niemals möglich gewesen sein sollen. In diesem Zusammenhang ist für mich völlig unverständlich, dass ausgerechnet jene Unternehmen und Konzerne wie Amazon & Co., die am stärksten von der Krise profitieren, nach wie vor kaum Steuern zahlen. Das muss sich ändern.

      Wir alle haben gelernt, dass das Tun und Lassen von jeder und jedem einen großen Unterschied machen kann. Was oft floskelhaft daherkommt, haben wir in der Pandemie ganz intuitiv verstanden: Vermeintlich kleine Handlungen wie regelmäßiges Händewaschen, Abstand halten und Mund-Nasen-Schutz tragen können Einfluss auf die weltweite Entwicklung einer Pandemie und damit auf unsere eigene Gesundheit und unser Leben haben. Dass das Kleine oft im Großen mündet, ist eine Erfahrung, die ich in meiner Arbeit häufig mache. Veränderung fängt oft im Kleinen an, mit einem Gedanken, einem Wort, einem Posting, einem ersten Schritt, aber vor allem mit dem Überwinden von Ängsten, mit Dialog, Zuhören, Geduld und Begegnung.

      Diese Erfahrung kann uns keiner mehr nehmen. Sosehr all die Maßnahmen während der Krise auch immer von oben herab verordnet wurden, so steckt doch im Händewaschen, im Maskentragen, ja sogar im Abstandhalten eine selbstermächtigende Erfahrung – nämlich die, dass es nicht egal ist, wie ich mich verhalte. Dass es um Eigenverantwortung geht und um gemeinsame Verantwortung für unsere Nächsten, die in einer globalisierten und digitalisierten Welt viele tausende Kilometer entfernt leben können. Ich bin überzeugt: Diese Erfahrung ist es, die wir für unsere eigene und für die Zukunft unserer Kinder brauchen – gerade dann, wenn


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