Die Musenfalle. Nora Miedler
zwängte.
Geduckt schlich er an Ludwigs Zaun entlang. Es dauerte nicht lange, bis er die Stelle gefunden hatte. Sie war so groß, dass er zweimal durchgepasst hätte.
Er war drüben. Gebannt blieb er an den Zaun gedrückt hocken. Doch keiner der Kripobeamten hatte sich in den Garten verirrt.
In Hockstellung bewegte er sich ein paar Meter vorwärts. Mit klammen Fingern tastete er den feuchten Rasen ab. Hier irgendwo musste der schwere Eisenring sein. Er zwang sich ruhig zu bleiben, sein Blick unverwandt auf die Fenster gerichtet, während seine Hände ihre Arbeit taten.
Da, jetzt hatte er ihn. Mit beiden Händen befreite er die schwere Tür, auf der der Eisenring saß, von Erde. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass der Geheimgang nun sofort entdeckt werden musste, sobald man in die Nähe kam. Aber er hatte keine Zeit für Überlegungen. Sollte die Polizei das, wonach er suchte, vor ihm gefunden haben, dann brauchte er sich die nächsten Jahrzehnte um gar nichts mehr zu sorgen. Das würde dann der Staat für ihn erledigen.
Er zog an dem Ring, zerrte die Falltür in die Höhe, musste sie mit beiden Händen nach oben drücken, um hineinschlüpfen zu können. Seine Füße fanden keinen Halt auf der glatten Stiege. Ächzend prallte er mit dem Rücken auf die Steinstufen. Die Falltür schlug mit einem lauten Knall über ihm zu. Er starrte in die Dunkelheit. Wartete darauf, dass sie kamen.
Niemand kam.
Die Wände waren kalt und feucht, der Gang stockfinster, und er verfluchte sich dafür, dass er kein Feuerzeug dabeihatte. Dann fiel ihm ein, dass er sein Handy benutzen konnte. Mit Hilfe des Displays leuchtete er sich seinen Weg. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Als er das Gefühl hatte, dass es sich höchstens noch um zehn, fünfzehn Fußlängen handeln konnte, die ihn von Ludwigs Arbeitszimmer trennten, lauschte er bei jedem Schritt, den er tat.
Die Bodenklappe, die aus dem Gang ins Arbeitszimmer führte, war aus dünnem Holz, wie er wusste. Ludwig hatte seit einem Jahr vorgehabt, beide Eingänge zum Geheimgang, sowohl den im Arbeitszimmer als auch den im Garten, mit einem Schloss zu verriegeln. Seine beiden Jungs waren in ein Alter gekommen, in dem sie sich auf eine aufregende Entdeckungsreise nur allzu gern eingelassen hätten. Und abgesehen davon, dass in der höhlenartigen Finsternis die Verletzungsgefahr viel zu groß war, vertrugen die Gespräche im Arbeitszimmer sicher keine Lauscher.
Alexander hangelte sich am Ende des Gangs mit den Händen die Treppe hinauf und drückte das Ohr gegen die Holztür.
Er vernahm entfernte Stimmen. Hauptsächlich tiefe Männerstimmen. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, doch es klang, als hielte sich augenblicklich niemand im Zimmer auf. Jedenfalls waren weder Schritte zu hören noch das Aufziehen von Laden oder das Durchwühlen von Schränken. Und die Stimmen kamen aus anderen Räumen. Er wog das Risiko ab. Die Bodentür lag, unter einem Perserteppich verborgen, hinter einer kleinen, geschlossenen Bar. Sofern also niemand zufällig hinter die Theke schaute, konnte er unbemerkt aus dem Loch steigen, selbst wenn sich jemand in der Nähe aufhielt. Vorausgesetzt natürlich, er verursachte keinen Lärm.
Ein letztes Mal lauschte er angespannt, dann schloss er die Augen und drückte mit dem Kopf gegen die Bodentür. Sie gab ein knarrendes Geräusch von sich, das sein Trommelfell zum Schwingen und sein Herz zum Hämmern brachte. Panisch hielt er inne. Zwei Sekunden, drei Sekunden … dann gab er sich einen Ruck und stemmte mit aller Kraft seinen Hinterkopf dagegen.
Er musste die Schultern dazunehmen. Der Teppich, der auf der Falltür lag, war dick und schwer. Hektisch arbeiteten seine Hände daran, ihn wegzuschieben, so dass er sich aus dem Loch hieven konnte.
Ohne zu atmen lauschte er.
Die Stimmen waren nicht allzu weit entfernt. Er schätzte, dass sie aus der Halle kamen. Er zog sich an der Theke hoch, sein Blick schoss durchs Zimmer.
Leer.
Die schweren Flügeltüren jedoch waren geöffnet. Er zwängte sich unter den Schwingtürchen der Bar durch und kroch hinter den Schreibtisch. Er musste den Vorrat finden, die Liste finden, alle Hinweise auf seine Person finden und vernichten. An das Geburtstagsgeschenk mochte er gar nicht denken. Nein, das hatte nichts mit ihm zu tun. Er wollte es nicht. Er war nicht schuld. Der Reihe nach öffnete er die drei obersten Laden, tastete sich vorsichtig durch Schreibutensilien, Briefbögen und Büroklammern. Nichts. Die nächste Ladenreihe. Wieder nichts. Panisch riss er die beiden Kästchen auf, die sich links und rechts darunter befanden, steckte den Kopf hinein, stocherte verzweifelt nach hinten, fühlte, fasste, packte, doch nichts, das er in die Hände bekam, war von irgendeinem Nutzen für ihn.
Stimmen. Er stockte. Stimmen – und Schritte! Panisch kroch er unten den Schreibtisch, rollte sich zusammen wie ein Stein. Schritte von schweren Schuhen, ganz nah … er kniff die Augen zu – die Schuhe änderten ihren Kurs, nahmen die Treppe nach oben.
Er keuchte. Raus hier, raus! Gebückt floh er zur Bar, unter den Schwingtürchen durch, ins Loch hinein. Er packte den Griff der Falltür, wollte sie schließen, da fiel ihm der Teppich ein. Gott im Himmel! Verzweifelt versuchte er den Teppich über die Bodenklappe zu ziehen, so dass er, wenn sie geschlossen war, glatt darüber liegen würde.
Und wenn nicht, auch egal! Er musste weg.
Er kroch, krabbelte und robbte durch die Finsternis. Sein Atem schien ihm viel zu laut, als wäre das Geräusch auf Tonband aufgenommen und würde extra eingespielt.
Mit jedem Meter, den Alexander vorwärtskam, schlüpfte er weiter aus seinem Körper. Schließlich war er nur noch ein Beobachter, der diesem ungelenken Anzugträger dabei zusah, wie er sich über Stein und Schmutz quälte. Die Distanz zu dem hechelnden Mann wurde immer größer.
Bis seine rechte Hand sich in einem Haarbüschel verfing. Da kehrten die Gefühle in Alexander Strehls Körper zurück.
Lilly, 14:00
Ich hatte keine Lust mehr auf das Treffen mit Strehl. Den ganzen Vormittag über war ich wie auf Koks gewesen, hatte herumtelefoniert, literweise Kaffee getrunken und vor dem Spiegel getanzt.
Um zwei Uhr nachmittags sank ich zittrig und erschöpft aufs Bett. Ich registrierte die trübe Suppe vor dem Fenster und musste das Licht in meinem Zimmer aufdrehen, um die drückenden Schatten zu verjagen. Trotzdem fühlte ich mich elend.
Du hast gewonnen, sagte ich mir. Du hast geschafft, was du wolltest. Dein Leben wird gut sein. Noch besser als jetzt.
Oder doch nicht? Was, wenn der Kampf der letzten Jahre erfüllender war als die kommende Sicherheit? Ich bewege mich gern am Limit. Wähle zwischen dem längeren, bequemen Weg und dem kurzen über die brennende Holzbrücke instinktiv die Abkürzung. Nicht nur, um schneller ans Ziel zu kommen – so sportlich bin ich nicht –, sondern vor allem, um es nicht den anderen gleichzutun. Niemals.
Ich stand auf, zündete mir eine Zigarette an und öffnete den Kleiderkasten. Ich hatte ein Dutzend Fetzen, die mindestens so nuttig waren wie das Poison-Kostüm. Aber so würde er mich noch oft genug sehen.
Letztendlich fand ich mich in ausgewaschenen Jeans, einem knallroten Top und Cowboystiefeln wieder. Meine Haare band ich ganz oben am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz und war stolz, dass sie trotzdem noch über den halben Rücken reichten. Der Rest war nicht so toll, aber das machte mir meistens nichts aus. Ich hätte das nie laut ausgesprochen, doch ich fand mein Charaktergesicht wesentlich interessanter als Brittas Engelsantlitz. Vermutlich hätte ich trotzdem mit ihr getauscht. Engel hatten es leichter auf der Welt.
Lilly, 20:12
Ich war selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich bei der Böhmgasse 1 um ein Lokal handelte. Aber nichts da, lediglich ein schlichtes Häuschen hinter einem Gartenzaun, umgeben von Fichten und Tannen. Oder so was Ähnlichem, irgendwelchen Nadelbäumen eben.
Ich fluchte. Die ganze scheiß Böhmgasse bestand aus Nummer 1. Hier war sonst nichts!
Ich kramte meinen Schlüsselbund aus der Manteltasche und umschloss