Das Wiedersehen. Adrian Plass
dazu kommen?
Als ich in diesem Moment zum blauweißen Himmel aufblickte, sah ich die unschuldigen Augen Gottes, der offenbar gerade in eine andere Richtung schaute. Ich stöhnte.
Also, ich würde nicht hinfahren. Ich würde einfach nicht hinfahren. Wütend schlug ich mit dem Umschlag auf mein Knie. Na schön, wenigstens mit dem Gedanken würde ich mich befassen.
Wollte ich Angela wiedersehen? Nun, ja, wahrscheinlich. Meine Erinnerungen an sie, der Tonfall ihres Briefes, ihre Freundschaft mit Jessica - ja, dachte ich, ich würde Angela wohl gerne wiedersehen, wenn auch am liebsten ohne einen Haufen anderer Leute dabei. Wollte ich herausfinden, was Jessica in jenen letzten Stunden vor ihrem Tod für mich ausgeheckt hatte? Nein.
Ja! Ja! Ja! Ja, ich wollte es wissen! Ja! Ich wollte diese Sache haben, die Jessica Angela für mich gegeben hatte. Es gehörte mir. Ich wollte es haben! Es stand mir zu! Also, ich würde Angela anrufen und entschlossen auftreten. Einfach verlangen, dass sie mir diese Sache übergab, was immer es war, ohne dieses alberne Getue mit dem Wiedersehenstreffen.
Ich blätterte den Brief durch, las noch einmal den letzten Abschnitt und überlegte, wie wenig ich über Angela und wie viel ich über Jessica wusste. Dann schüttelte ich den Kopf. Nein, nicht ich allein gegen diese beiden. Das würde nicht funktionieren.
Konnte ich überhaupt hinfahren, falls ich wollte? Ja, es ging schon. Was Angela offensichtlich nicht wusste, war, dass ich gleich nach Jessicas Tod alle meine Vortragstermine für den Rest des Jahres abgesagt hatte. Die Einladungen für das nächste Jahr stapelten sich zu Hause auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer, das ich nur selten betrat. Sollten sie sich stapeln, solange sie wollten. Dieses Leben hatte ich jetzt hinter mir. Irgendwann würde ich mir irgendeinen Job suchen müssen, sicher, aber im Moment hatte ich keine finanziellen Probleme. Wie die Ironie es wollte, hatte gerade Jessicas Verlust dafür gesorgt. Nein, Tatsache war, dass ich vermutlich mehr Zeit hatte als jeder andere, der zu einem solchen Wochenende kommen mochte. Keine Kinder. Würde auch nie welche haben. Keine Frau. Nie wieder. Frei.
„Scheiße!“
Trauer und Zorn schüttelten meinen Körper wie ein Krampf und höhlten meinen Magen aus. Zum Kuckuck mit allen! Ich würde nirgendwohin fahren. Sollte Angela das verdammte Ding doch behalten, was immer es war! Sollten sie doch ihr Wiedersehenstreffen machen und sich besaufen und sich alle gegenseitig vollkotzen! Viel Spaß dabei. Ich stierte über den See hinweg. Ich hatte mich geirrt. Ein kleines Aufblitzen von Rot und ich wäre wieder gerannt wie ein Berserker. Oh, Jessica!
Ich stand auf, stopfte den Brief in meine Tasche, kehrte dem See den Rücken, überquerte die Brücke und stapfte den Hang hinauf zum Haus. Mein Fahrrad hatte ich an den Drahtzaun eines mit Löwenzahn überwucherten, unebenen alten Tenniscourts gelehnt, noch so eine eigentlich vorzügliche Einrichtung, die durch Vernachlässigung zu Grunde gerichtet worden war.
„Allmählich fange ich an, diesen Ort zu hassen!“, murmelte ich vor mich hin.
Ich schwang mein Bein über den Sattel, stieß mich mit dem Fuß ab und rollte über den Parkplatz. Als ich die Auffahrt erreichte, die das Haus und das Gelände mit der Hauptstraße verband, beschleunigte ich, so schnell ich konnte. Ich stellte mich auf die Pedalen und stemmte mich mit aller Kraft hinein. Die Muskelanstrengung, die nötig war, um Tempo und Schwung zu gewinnen, war mit einem exquisiten, unvermeidlichen Genuss verbunden. Da die Strecke leicht abschüssig war, war ich schon nach einer halben Minute so schnell, dass das Fahrrad auseinander zu fliegen drohte. Mit gesenktem Kopf jagte ich den kurvenreichen Weg entlang, ohne auf irgendetwas zu achten außer der Luft, die mir um Kopf und Schultern strömte, und das Zischen der dünnen Rennreifen, die unablässig auf dem schwarzen Asphalt rotierten.
Mit meiner Geschwindigkeit hätte ich leicht in einer der engen Kurven mit etwas zusammenstoßen können. Mit einem Fußgänger vielleicht. Mit einem Auto. Oder mit einem anderen Radfahrer. „Vielleicht“, dachte ich mit einem schwindeligen Gefühl im Kopf, „rolle ich einfach weiter, wenn ich auf die Hauptstraße komme.“ Wenn ich einfach die Augen zumachte und in den fließenden Verkehr hineinradelte, dann war das vermutlich das Ende. Problem gelöst. Warum nicht? Als ich mich dem Tor der Einfahrt näherte, hatte ich immer noch volles Tempo. Direkt vor mir rollte der Verkehr mit hoher Geschwindigkeit in beiden Richtungen. So war es immer in diesem Abschnitt der Straße. Alles, was ich tun musste, war, die Augen zu schließen und weiter in die Pedalen zu treten.
Zentimeter vom Straßenrand entfernt kam ich mit längsseits über das Pflaster radierenden Reifen zum Stehen, und ich brauchte eine Weile, um meinen Atem und meinen Mut zurückzugewinnen, bevor ich mich in gemessenerem Tempo und vernünftigerem Geisteszustand auf den Heimweg machen konnte.
Nun ja, sagte ich mir, als ich den kleinen Verkehrskreisel am Ende meiner Straße erreichte, zumindest hatte ich an diesem Vormittag eine feste Entscheidung getroffen. Angela konnte behalten, was immer es war, was sie hatte. Kein Wiedersehenstreffen für mich.
Zu Hause machte ich mir eine Tasse Tee, ging damit an den Schreibtisch in meinem vernachlässigten Arbeitszimmer und schaltete die Schreibtischlampe ein. Ich nahm einen Stift aus dem Becher zu meiner Rechten, ein Blatt Papier von dem Stapel zu meiner Linken, und setzte mich hin, um Angela zu schreiben, ihr für ihren Brief zu danken und ihre Einladung zu einem Wiedersehenstreffen der Jugendgruppe von St. Mark's in Headly Manor an jedem ihr genehmen Wochenende anzunehmen.
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