Das Wiedersehen. Adrian Plass
Tag auf dem Land zu machen.
Soweit mir bewusst war, stellte Jessicas Sammlung keinen großen finanziellen Wert dar, obwohl das Picknickset relativ teuer gewesen war.
Eine lebendige Erinnerung.
An einem späten Nachmittag war sie mit einem braunen, stoffbespannten Koffer und ungewöhnlich schuldbewusstem Gesicht nach Hause gekommen. Sie habe etwas gesehen, als sie an dem Second-Hand-Shop weiter oben in der Straße vorbeigekommen sei, erklärte sie mir, noch bevor sie ihre Jacke auszog, und sie habe sich spontan entschlossen, es zu kaufen, weil sie so eine Gelegenheit vermutlich nie wieder bekommen würde, ganz bestimmt nicht in einem solchen Zustand, und sie hoffe, ich würde sie nicht für komplett verrückt erklären, weil sie achtzig Pfund dafür ausgegeben habe, aber das würde ich auch bestimmt nicht, wenn ich es erst gesehen hätte, so bezaubernd sei es, und schau doch, sie würde es einfach aufmachen, da sei es, ich solle bitte nicht wütend sein, sie habe einfach nicht anders gekonnt, und wir, das hieß sie, könnten doch alle möglichen Dinge einsparen, um die Ausgabe wieder wettzumachen, und wie fände ich es?
Ungeachtet der negativeren Manifestationen eines solchen plötzlichen Wahnsinns hat es etwas unwiderstehlich Pikantes, wenn ein Ehepartner von seinen lebenslangen Gewohnheiten abweicht und dann um Verzeihung dafür bittet. Jessica war nie verschwenderisch mit Geld umgegangen, schon gar nicht für sich selbst, auch nicht auf der Jagd nach ihrem „Müll“, und ich fand es eigentümlich charmant, dass sie sich diesmal dazu hatte hinreißen lassen. Außerdem blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihr von ganzem Herzen zuzustimmen. Das Picknickset war exquisit.
Ich musste meinen Blick von der Ecke abwenden, in der diese Dinge immer noch sorgfältig aufgebaut standen. Sie hatte sie so sehr geliebt. Komm zu mir zurück, Jessica. Komm nur zurück, hör auf mit diesem blöden Gesterbe, und du darfst das ganze Haus mit deinem Müll füllen, du darfst jeden Penny, den wir haben, für Sachen ausgeben, die dir Freude machen. Ich würde alles geben für nur noch eine Woche voller ganz gewöhnlicher Tage mit dir, mein Liebling.
Angelas Brief.
Ich las ihn noch einmal durch, diesmal sorgfältiger. Warum war ich mit diesen Blättern ausgerechnet ins Wohnzimmer gegangen? Weil sie ein unerwartetes, offenes Fragezeichen in meinem Leben aufwarfen? Etwas, das mit Jessica zu tun hatte? Ja. Etwas, das mit Jessica zu tun hatte und noch nicht verarbeitet und erledigt war. Etwas, das Jessica mir zukommen lassen wollte. Etwas, das mir noch nicht gegeben worden war. Es war, als käme ich in die Hitze, nachdem ich eingefroren war. Winzige Tentakeln der Wärme krochen fast schmerzhaft durch die kalten Adern meines Verlustes. Es gab noch etwas zu tun. Noch etwas zu leben. Dies war das Zimmer, wo etwas Derartiges passenderweise geschehen oder zumindest beginnen konnte.
Ich musste lächeln, als ich den ersten Teil des Briefes zum dritten Mal las. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand, der Angela so wie ich im Alter von sechzehn oder siebzehn kennen gelernt hatte, sie je wieder vergessen würde. Jenes „trottelige“ Lächeln war in der Lage gewesen, jedes männliche Wesen in Sichtweite in eine geleeartige Masse einfältiger Verehrung zu verwandeln. Die Wattzahl war unglaublich. Mit ihrem natürlich honigblonden Haar, ihren elektrisierend blauen Augen und ihrem breiten, üppigen Mund hatte Angela diesen sehr attraktiven, leicht angeschlagenen Zug um ihre hohen Wangenknochen, mit dem manche Mädchen gesegnet sind. Dazu kam, dass sie schon mit sechzehn eine Figur wie aus einem köstlichen Traum hatte - jedenfalls war sie in so manchem meiner Träume vorgekommen. Sie war schön, stark, immer freundlich und teilnahmsvoll, und sie strahlte etwas aus, was schwächlichen Jünglingen wie mir die Knie weich werden ließ. Ich hatte sie als selbstbewusst und kompetent in Erinnerung, nicht als herrschsüchtig. Alles in allem jedoch war die Mischung ihrer Eigenschaften für die meisten Jungs in ihrem Alter, auch für mich, viel zu furchteinflößend gewesen. Jedenfalls, so sehr ich Angela mit diversen bedeutenden Teilen meines jugendlichen Wesens schätzte, war ich bis über beide Ohren verliebt in ihre beste Freundin Jessica, ein schönes, dunkles Juwel von einem Mädchen, das schon bald nach unserer ersten Begegnung die ganze Aufmerksamkeit meiner Gedanken wie auch meines Körpers einnahm.
Ich blickte von der Briefseite auf und starrte hinaus über den Rasen vor meinem Haus. In der Ferne, gerade noch sichtbar über den dicht geschlossenen Reihen der Bungalows, die sich vom Fuß des sanften Hanges, der dreißig Meter von meinem Gartentor entfernt begann, in drei verschiedene Richtungen erstreckten, sah ich die Kuppen der Hügel, auf denen Jessica und ich so gerne gewandert waren. Es erschien mir unwahrscheinlich, dass ich je wieder dort unterwegs sein würde. Warum sollte ich? Wie könnte ich Freude daran haben? Ich würde doch nur die ganze Zeit nach ihr suchen, so wie ich in der Woche nach ihrem Tod nach ihr gesucht hatte.
Aber jetzt dieser Brief von Angela …
Ich musste irgendwo anders hin, um darüber nachzudenken. Aber wohin? Ich traf eine Entscheidung. Ich faltete den Brief zusammen, legte ihn zurück in den Umschlag und steckte ihn in meine Hosentasche. Dann ging ich in die Küche, schnappte mir den Schlüssel zur Gartenhütte vom Haken und ging durch die Hintertür hinaus. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mein Fahrrad aus dem Gartengerümpel in der Hütte ausgegraben hatte. Ich hatte seit Monaten nicht mehr darauf gesessen. Eine schnelle Überprüfung: Reifen okay. Bremsen okay.
Augenblicke später radelte ich auf den Mini-Verkehrskreisel am Ende unserer Straße zu. Ich wusste genau, wo ich jetzt hinmusste.
Der Morgen nach dem Tag, als Jessica starb, war warm und trüb gewesen, der schiefergraue Himmel voller schwerer Regenwolken. Ich hatte mein Haus verlassen und war in den Wagen gestiegen, benommen vor Schock und Schlafmangel, um zielsicher, wenn auch ohne jeden bewussten Plan, in Richtung Grafton House zu fahren, eines etwa drei Meilen entfernten, großen christlichen Tagungszentrums.
Grafton House stand, uralt und von Efeu überwuchert, mitten in der Landschaft am Ende einer langen, verschlungenen, von Bäumen gesäumten Straße. Da man sich auf solche geistlichen Dienste wie das Austreiben von Dämonen und die Heilung negativer Erinnerungen spezialisierte, wurde diese Einrichtung von vielen Leuten, die in der Umgebung wohnten, mit großem Argwohn beäugt. Manche von ihnen, hauptsächlich solche, die nie selbst dort gewesen waren, sahen in dem alten Herrensitz eine Variante von Schloss Dracula oder vielleicht auch Bates' Motel. Kirchenferne Ortsansässige, die durch meine gelegentlichen Auftritte im Radio oder im Fernsehen eine ungefähre Vorstellung davon hatten, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente, horchten mich gelegentlich bei einem Glas Bier darüber aus, was genau dort eigentlich vor sich ging. Da ich jemand war, der in der Gegend herumreiste und den Leuten etwas über das Christentum erzählte, hielten sie es für selbstverständlich, dass ich über die Philosophie dieses Zentrums einigermaßen Bescheid wusste und dass ich, da ich selbst Christ war, vermutlich eine gewisse Sympathie für die seltsamen Methoden hegen musste, die dort offenbar angewendet wurden. Mir waren solche Gespräche unangenehm. Sicherlich glaubte ich daran, dass dämonische Besessenheit eine Realität war, der man vernünftig und angemessen begegnen musste, doch ich war mir auch sicher, dass einseitiger Fanatismus in der christlichen Gemeinde ebenso schädlich war wie allgemein in jedem anderen Bereich des säkularen oder geistlichen Lebens.Ich kannte Leute, denen ihre Besuche in Grafton House eine große Hilfe gewesen waren. Ich kannte auch andere, die so weit gebracht wurden, dass sie Dämonen unter dem Bett, im Schornstein und im Briefschlitz zu sehen begannen, überall, wo sie doch eigentlich nur eine tiefere Gewissheit brauchten, dass Gott sie liebte. Meist begegnete ich diesen Befragungen damit, dass ich murmelte, ich sei sicher, die Leute dort meinten es gut, und wir müssten aufpassen, nicht etwas herunterzumachen, bevor wir genug darüber wüssten, um ein vernünftiges Urteil zu fällen. Dann wechselte ich so schnell wie möglich das Thema. Nicht sehr beeindruckend. Aber Tatsache war nun einmal, dass ich so gut wie nichts über das Innenleben dieses Hauses wusste. Wissen Sie, ich war noch nie wegen des Dienstes dort gewesen. Bisher war ich nur wegen des Sees gekommen.
Der See lag in einer Waldlichtung hinter dem Zentrum. Vor langer Zeit, als das große Anwesen noch in Privatbesitz gewesen war, musste dieses Gewässer der Stolz und die Freude seines Besitzers gewesen sein. Offensichtlich künstlich angelegt, wahrscheinlich in der viktorianischen Zeit erbaut, hatte der See die Form einer Acht, wobei einer der Kreise anderthalbmal so groß war wie der andere. Ein drei Meter breiter Kanal schwang an einer Seite in einem Halbkreis heraus und ließ so eine Insel entstehen, die man