Das Wiedersehen. Adrian Plass
Insel war ganz und gar von Rhododendren und Azaleen überwuchert; ein herrlicher Anblick, wenn ihre rosafarbenen, weißen und purpurnen Blüten in voller Pracht standen, doch nach Jahren der Vernachlässigung ungepflegt, verschossen und verfilzt. Weidenbäume säumten die Ufer des Sees und beugten sich demütig und in anmutigem Erstaunen, um ihre eigenen Spiegelbilder und gelegentlich auch einen der Schwärme von Riesenkarpfen zu grüßen, die sich träge nahe dem Ufer unter der Wasserfläche tummelten, geborgen in dem Wissen, dass das Fischen in diesem Gewässer seit Menschengedenken untersagt war.
Jessica und ich liebten diesen Ort. Wir verstanden nie, warum man diesen idyllischen kleinen Winkel des Geländes so achtlos verfallen und verwildern ließ. Der See war nicht gerade riesig; wenn man flott marschierte, konnte man ihn in zwanzig Minuten umrunden. Doch als einziges Zugeständnis, um ihn zugänglicher zu machen, hatte man einen schmalen Pfad grob durch das dichte Unterholz und das hohe Gras rings ums Ufer geschlagen, sodass man den See im Frühjahr und Sommer komplett umrunden konnte. Drei schmiedeeiserne Bänke, bei denen der Rost die Farbe abblättern ließ, boten Gelegenheit sich zu setzen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, eine an jedem Ende der Acht und eine (unsere Lieblingsbank) am Rande der Insel, vor dem Haus verborgen durch eine Rhododendronhecke und mit dem Blick hinaus auf den breitesten Teil des Sees. Vielleicht rentierte sich die Dämonenaustreibung nicht so besonders oder vielleicht stand die Arbeit an dem See und seiner Umgebung sehr niedrig auf der Liste kostspieliger Prioritäten der Leute, die das Zentrum betrieben, oder vielleicht mochten sie ihren See ja auch einfach so, wie er war. Was immer der Grund war, es kümmerte sich niemand darum, um es milde auszudrücken.
An dem Tag, nachdem Jessica gestorben war, war ich froh gewesen, dass die Gegend rund um den See so ungepflegt und rau war. Das passte zu dem Durcheinander in meiner Seele. Ich überquerte die gefährliche kleine Brücke, ohne mich groß darum zu scheren, ob sie einstürzte oder nicht, setzte mich auf die alte eiserne Bank und versuchte die Tatsache in den Kopf zu bekommen, dass sie nicht mehr da war.
Ich glaube, es war das Verstummen ihrer Stimme, das für mich am schwersten zu glauben war. Schwer zu glauben, verstehen Sie, nicht nur schwer zu akzeptieren. Es war noch schwerer als zu glauben, dass ihr Körper aufgehört hatte, eine warme, lebendige Person zu sein, und zu einer kalten, unbelebten Sache geworden war. Um Himmels willen, wie konnte eine solche Kraft der Absicht, besonders in Bezug auf mich, so vollkommen erlöschen? Wie konnte sie so abrupt enden? Wie konnte meine geliebte Jessica, wenn sie überhaupt noch auf irgendeiner Ebene existierte und wenn sie auch nur die entfernteste, dunkelste Möglichkeit hatte, mit mir zu kommunizieren, es versäumen, auf den Klang meiner Stimme zu reagieren, wenn ich sie brauchte? Vergiss die Theologie. Vergiss alles, was du je über den Tod gelernt oder gelehrt oder gepredigt hast. Hier zählte nur der gesunde Menschenverstand. Ich konnte nicht aufhören, der zu sein, der ich war. Sie konnte nicht aufhören, die zu sein, die sie war. Wir konnten niemals etwas anderes sein als wir. In jenem Moment fehlte mir jeder Glaube an die Endgültigkeit des Todes, aber das hatte nichts mit der Hoffnung auf den Himmel zu tun. Es hatte mit der Gewöhnung an das Leben zu tun. Ich beugte mich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände miteinander verschränkt, und sprach flüsternd durch meine zusammengebissenen Zähne mit Jessica, als wäre ich ein Spion, der einem in den Büschen versteckten Kontaktmann Geheimnisse weitergibt.
„Jess, wo bist du? Kannst du mich hören? Hör zu, ich möchte nur, dass du für einen Moment hier bei mir bist - das ist alles. Bitte, ich kann es nicht aushalten. Komm zu mir, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Bitte, Jess. Nur für eine oder zwei Minuten. Bitte … “
Stille. Warum antwortete sie mir nicht?
Der See und die ganze Umgebung wirkten alt und müde. Die Wasseroberfläche war still, aber es war keine heitere Stille; es hatte etwas Trostloses. Es war dumpf. Ohnmächtig. Enttäuscht. Dieser Ort war ebenso ein Hinterbliebener wie ich. Menschen wenden Zeit und Mühe auf, um Dinge zu bauen und zu entwickeln. Sie sehen frisch, gepflegt und schön aus. Die Jahre vergehen. Niemand kümmert sich mehr darum. Wege werden überwuchert, Tiefen setzen sich zu und werden seicht, Holz verfault und wird zu einer Gefahr, wenn man darübergehen oder sich darauf stützen muss. Mit den Menschen ist es genauso. Generation für Generation bauen Männer und Frauen etwas Gutes, Starkes, Lohnendes zusammen, nur damit es ihnen entrissen wird, wenn das Monster Tod kommt und den Garten der winzigen Dinge, die sie erreicht haben, zertrampelt und sich die besten Früchte herauspickt wie ein gieriges Kind. Generation für Generation. Was hatte das alles für einen Sinn? Mir kam eine Strophe aus einem Gedicht in den Sinn, das ich einmal gelesen hatte:
Ich nahm meine Tochter mit in den Park
Sie rannte ganz schnell zum Karussell
Das Karussell im Kreis sich drehte
Doch es fuhr leider nirgendwohin
Es drehte und drehte und drehte und drehte
Es drehte und drehte und drehte.
Vielleicht war es an der Zeit, Gott an einen Präzedenzfall zu erinnern. Ich setzte mich auf, legte meine Arme über die Rückenlehne und schlug meine Beine übereinander.
„Du hast doch auch C.S. Lewis kommen und mit J.B. Phillips sprechen lassen, nachdem er gestorben war, oder? Ganz plötzlich ist er aufgetaucht, sah kerngesund aus und redete vernünftig. Hast du das getan? Ich glaube, du hast es getan. Du kannst es tun. Vater, lass mich Jessica sehen. Lass mich meine Jessica sehen. Bitte tu das für mich. Ich tue ja auch alles Mögliche für dich.“
Meine Stimme brach ein wenig, als ich weitersprach.
„Bitte tu diese eine Kleinigkeit für mich. Sie braucht nicht einmal mit mir zu reden. Es würde mir schon reichen, nur einen Blick auf sie zu erhaschen, wie sie dort hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Sees entlanggeht. Nur ein ganz kurzer Blick, mehr will ich gar nicht. Vielleicht könnte sie nach ein paar Frühblumen suchen, um sie für dich zu pflücken. Dann könnte sie aufblicken und lächeln, wenn sie mich sieht, und dann weitergehen und verschwinden. Das würde mir schon reichen. Vater, bitte lass mich sie nur noch einmal lächeln sehen. Gib mir keinen Stein, wenn ich dich um etwas Gutes zu essen bitte. Nur noch ein einziges Mal. Bitte … “
Tränen stiegen mir in die Augen, als ich diesen Unsinn aus meinem eigenen Mund kommen hörte. Ich bildete mir ein, ich könnte die Worte, die ich gesprochen hatte, wie flache Steine über die Oberfläche des Sees hüpfen sehen. Sie hatten nicht genug Schwung, um die andere Seite zu erreichen, und versanken unwiederbringlich vor meinen Augen. Trotz der Tränen hätte ich beinahe laut aufgelacht. Was ritt mich denn da, dass ich Gott nahe legte, er solle bitte schön so dankbar sein, mich für all die wunderbaren Dienste zu belohnen, die ich ihm erwies? Nun ja, diese Verwirrung durch die Trauer würde irgendwann vorübergehen, und dann …
Plötzlich setzte ich mich kerzengerade auf. Mein Blick hing wie gebannt an einer Stelle gegenüber auf der anderen Seite des Sees, wo der Pfad teilweise durch hohes Gras und wucherndes Unterholz verdeckt war. Für einen Augenblick hatte ich etwas Karmesinrotes aufblitzen sehen, genau der üppige, tiefe Rotton, den Jessica so oft getragen hatte, weil er so gut zu ihrem dunklen Teint passte. Jessica! Jessica war dort drüben auf der anderen Seite des Sees! Gott hatte mein Gebet erhört. Ich musste zu ihr!
Ich sprang auf, umrundete die Büsche und war mit zwei Sätzen über die Brücke. Dann blieb ich unentschlossen stehen. Mein ganzer Körper bebte. Welcher Weg war schneller, mit dem Uhrzeigersinn oder dagegen? Egal. Ganz egal. Beides ging.
Ich wandte mich nach links und stürmte den schmalen, rutschigen Pfad entlang, ohne auf Baumwurzeln, überhängende Äste oder irgendwelche anderen natürlichen Hinterhalte zu achten. In mir brannte ein wahnsinniges Verlangen, dem Teil meines Gehirns, der immer noch stur in seiner skeptischen Gelassenheit verharrte, zu beweisen, dass wirklich etwas Außergewöhnliches geschehen war - geschehen würde. Jessica war dort drüben auf der anderen Seite des Wassers und wartete auf mich. Oh, Jessica! Als ich das untere Ende des Sees umrundete, setzte plötzlich ein heftiger Regen ein. Es kümmerte mich nicht. Warum sollte es mich kümmern? Ich bemerkte es kaum. Weiter und immer weiter flog ich am Rande des Sees entlang, fegte mit den Ellbogen Sträucher und hohes Gras zur Seite und trieb mich mit dem Wissen, dass schon bald jenes liebe, vertraute Gesicht vor mir erscheinen