Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer
wie versteinert dazusitzen und ihn anzustarren. „Wo hast du das her?“ Ihr Blick war fest auf das Buch geheftet.
Mira senkte die Stimme. Nur für den Fall, dass jemand sie belauschte. „Das kann ich dir hier nicht sagen.“ Mira konnte an Veras Reaktion ablesen, dass ihr Misstrauen sie verletzte, deshalb fuhr sie hastig fort. „Aber ich kann es dir zeigen. Ich muss noch einmal dorthin. Die letzten Seiten der Geschichte fehlen.“
Vera nickte langsam, und Mira fügte schnell den Rest ihres Plans hinzu: „Heute Nacht.“ Sie konnte Edmund Porter nicht auf ein verbotenes Buch ansprechen, während ein Wachmann in der Buchhandlung herumlungerte.
„Und da willst du, dass ich … nein, Mira. Ich kann nicht mitkommen!“ Vera wandte sich von dem Buch ab und sah Mira mit aufgerissenen Augen an. „Was ist mit der Ausgangssperre? Was ist mit meinen Eltern? Und meinem Bruder?“
„Filip arbeitet.“ Mira hatte sich alles genau überlegt. „Deine Mutter wird schlafen wie ein Stein, und dein Vater …“ Sie verstummte.
Vera nickte grimmig und sah wieder das Buch an. „Mein Vater interessiert sich kein bisschen dafür, ob wir uns nachts rausschleichen. Sag es ruhig. Es stimmt ja. Er wird es nicht einmal bemerken.“ Sie stieß die Luft aus. „Aber trotzdem, Mira, was ist mit den Wachposten? Es ist verboten, nachts draußen herumzuschleichen. Weißt du, was sie mit Leuten machen, die nach Ausgangssperre draußen erwischt werden?“
Es war kein Geheimnis, dass Vera nicht mutig war. Aber sie war auch eine zu treue Freundin, um Mira allein gehen zu lassen.
„Mit diesem Buch spielt es keine große Rolle, ob wir am Tag oder in der Nacht erwischt werden“, erwiderte Mira brüsk, aber auch ihr Herz klopfte bei dem Gedanken an die nächtlichen Straßen wie wild. Sie war, abgesehen von wenigen, kaum nennenswerten Minuten, noch nie innerhalb der Sperrstunde draußen gewesen. „Es ist eine der alten Geschichten. Du müsstest sie lesen! Sie ist …“
„ … so was von verboten!“, ergänzte Vera und hielt sich die Ohren zu, als Mira Luft holte. „Nein! Nein, nein, nein! Du musst mir wenigstens die Wahl lassen, ehe du mich da mit hineinziehst!“
Mira verstummte. „Oh … okay. Ähm … möchtest du mit hineingezogen werden?“, fragte sie leichthin.
„Mira!“, rief Vera aus – ein bisschen belustigt, aber größtenteils entsetzt. „Du redest darüber, als ginge es nur um verbotene Ersatzschokoladenkekse!“
Sie hatte recht: Mira versuchte, die Angelegenheit so harmlos wie möglich klingen zu lassen. Vera musste einfach mitkommen. Mira war nicht sicher, ob sie alleine den Mut aufbringen würde.
„Das ist viel besser als verbotene Kekse“, beharrte sie, immer noch flüsternd.
„Und gefährlich ist es obendrein“, entgegnete Vera. „Dein Vater würde …“
„Mein Vater hat damit überhaupt nichts zu tun“, fiel Mira ihr ins Wort. Sie wollte, während sie hier mit Vera und einem verbotenen Buch auf einem zerwühlten Bett saß, nicht einmal an ihn denken. Er hielt nichts von Büchern jedweder Art, und obwohl er wusste, wie gerne seine Tochter las, würde er sie nie für fähig halten, den Staat so zu hintergehen. Er wäre maßlos von ihr enttäuscht. Und wütend. Mira wusste nicht, was schlimmer war.
„Lass mich dir davon erzählen.“ Mira schob den Gedanken an ihren Vater so weit weg wie irgendwie möglich. „Dieses Buch ist …“
Doch Vera sollte vorerst nicht herausfinden, was an diesem Buch so besonders war und warum ihre Freundin dafür Kopf und Kragen riskieren wollte, denn Mira verstummte schlagartig, als sich ein schütterer, grauer Haarschopf und Bart samt dem dazugehörigen Kopf durch den Türspalt schoben. Der Körper, zu dem dieser Kopf gehörte, blieb hinter der Tür verborgen, war aber vermutlich genauso nachlässig gekleidet wie immer. Was Flecken, Risse und andere Makel an seiner Kleidung anging, schien Herr Petersen mit Blindheit geschlagen.
„Hallo, Mira“, begrüßte er sie. Im Gegensatz zu ihren eigenen Eltern nannte Herr Petersen Mira bei dem Namen, den sie sich selbst gewählt hatte. Mira gefiel das, und obwohl sie insgeheim vermutete, dass die Petersens schlichtweg nicht wussten, dass sie eigentlich Miriam hieß, erfüllte es sie mit dem warmen, heimeligen Gefühl des Willkommenseins.
„Ihr habt nicht rein zufällig meine Brille gesehen?“ Herr Petersen rieb sich die Nasenwurzel.
Vera schüttelte den Kopf und versuchte unauffällig so weit nach rechts zu rutschen, dass sie auf dem Buch saß, das immer noch zwischen ihnen auf der Bettdecke lag.
Herr Petersen zuckte die Schultern. „Sie ist nicht im Badezimmer, auch nicht im Kühlfach, und sie sitzt nicht auf meiner Nase“, zählte er auf. „Aber unter diesen Umständen will ich eure hochgeheimen Mädchengespräche nicht weiter stören.“ Er gluckste, und Vera sprang auf.
„Komm, Mira, lass uns meinem Vater helfen, seine Brille zu suchen. Sie könnte ja auch im Schlüsselkasten hängen. Da war sie letztes Mal“, plapperte sie, ohne auch nur ein einziges Mal Luft zu holen.
„Oh, lasst nur“, winkte Herr Petersen ab und zog schon den Kopf durch den Türspalt zurück. „Im Schlüsselkasten habe ich zuallererst nachgesehen. Aber weit kann sie nicht sein. So ein Haus verliert nichts.“ Seine Stimme entfernte sich bereits.
Vera stand noch einen Moment mit am ganzen Körper angespannten Muskeln in der Zimmermitte, ehe sie sich neben Mira und das verbotene Buch auf das Bett fallen ließ und sich den Pony aus der Stirn wischte. „Meine Güte, ich weiß noch nicht einmal, was in diesem Ding steht, und schon bringt es mich in Schwierigkeiten!“
„Dann lass mich dir die Geschichte erzählen“, nutzte Mira ihre Chance. „Bitte, Vera. Danach kannst du immer noch entscheiden, ob sie das Risiko wert ist.“
„Nichts ist dieses Risiko wert“, erwiderte Vera. Aber sie verschränkte die Arme vor der Brust und bedeutete Mira, zu erzählen.
Zum Abendessen setzte Herr Petersen ihnen gebratenes Brot und lauwarme Milch vor. Mira war nicht sicher, ob das ein Zeichen für die beschränkten Möglichkeiten einer Familie ohne nennenswerte Sonderrationen war oder schlicht darauf hinwies, dass es früher Frau Petersen gewesen war, die gekocht hatte.
Vera und Mira verschlangen das leicht angebrannte Mahl ohne Beschwerden und erklärten sich nur allzu übereifrig dazu bereit, den Abwasch zu übernehmen, damit Herr Petersen sich in sein Büro zurückziehen konnte. Keiner wusste so recht, was er darin eigentlich tat, aber Vera konnte versichern, dass er am Abend für gewöhnlich an seinem Schreibtisch einschlief.
„Und ihr kommt wirklich ganz und gar alleine zurecht?“, fragte er, nahm seine Brille – er hatte sie im Brotkorb wiedergefunden – ab und drehte sie in den Händen. Seine Nachfrage entsprang purer Freundlichkeit: Niemand hätte beim Anblick des sich türmenden Geschirrs von scheinbar mehreren Tagen Hilfe abgelehnt. Niemand, außer zwei Mädchen, die nur zu offensichtlich etwas im Schilde führten. Doch Herr Petersen atmete nur erleichtert auf, fischte ihnen einen frischen Lappen aus dem Putzschrank und stahl sich in sein Büro davon.
Kapitel 3
Porters Höhle
„Wir werden erwischt, wir werden erwischt, wir werden erwischt“, flüsterte Vera unablässig, während sie um kurz nach zwölf in dieser Nacht die Straße vor Veras Haus hinabschlichen.
Mira war vor Aufregung ganz schlecht, und sie war nicht in der Stimmung, Vera zu beruhigen. „Wenn du noch ein bisschen lauter sprichst, dann ganz bestimmt“, zischte sie nur und presste das Buch, das wieder unter ihrer Bluse steckte, so fest an sich, wie sie nur konnte. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob es das Risiko wirklich wert war. Es schien ihr nahezu unmöglich, ungesehen zu „Porters Höhle“ zu gelangen.
Veras Flüstern ging in ein ängstliches Wimmern über, das einzige Geräusch, das, abgesehen von ihren verdächtig lauten Schritten, noch zu