Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer
sich so sorgsam überlegt, wie sie sich aus dem Haus schleichen konnten und was sie Edmund Porter fragen wollte, wenn sie ihm schließlich gegenüberstand, dass ihr der Weg dorthin wie das geringste Problem erschienen war.
„Warum gehen wir noch einmal mitten in der Nacht?“, wisperte Vera, die Mira ganz nervös machte, indem sie sich alle zwei Schritte nach links und rechts und hinten umsah.
„Weil sie die Buchhandlung überwachen“, gab Mira wie die beiden vorangegangenen Male zur Antwort. „Sie dürfen uns nicht belauschen. Sonst wissen sie, dass Herr Porter eine verbotene Schrift besitzt und dass ich sie gelesen habe.“ Es war nicht erlaubt, während der Ausgangssperre draußen unterwegs zu sein. Wen sie erwischten, den stellten sie unter Arrest oder kürzten seine Rationen. Aber eine verbotene Schrift zu besitzen oder auch nur gelesen zu haben war schlimmer. Mit einer Gefängnisstrafe oder einer Rationskürzung käme man dabei nicht davon.
„Es wird schon gut gehen“, versicherte Mira ihnen beiden leise.
Sich aus dem Haus der Petersens zu schleichen war beinahe lächerlich einfach gewesen. Veras Mutter hatten sie den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen, und ihr Vater war lange vor Mitternacht über seinen Unterlagen eingenickt. Vera hatte nach ihm gesehen und das Licht gelöscht, ihn aber schlafen lassen. Er hatte nichts von alledem – und auch nichts von ihrem Gehen – mitbekommen.
Obwohl ihnen beiden das Herz bis zum Hals schlug, kamen sie ohne größere Zwischenfälle bis in den Kern der Innenstadt. Sie begegneten niemandem, nur einmal hörten sie in der Ferne die Schritte eines Wachpostens. Als sie „Porters Höhle“ schon am jenseitigen Straßenende sehen konnten, hatten sie sich ein wenig entspannt und waren vielleicht auch ein bisschen unvorsichtig geworden.
Sie beschleunigten ihre Schritte, die hämmernd wie ein Herzschlag von den Wänden der umstehenden Häuser widerhallten. Erst im letzten Moment sahen sie den Lichtkegel der Taschenlampe, der sich aus einer Seitengasse näherte, während der Rest der Stadt in tiefster Dunkelheit lag, nachdem der Strom in den Privathaushalten schon vor Stunden für die Nacht abgeschaltet worden war. Eine Stimme bellte in die Stille der Nacht: „Wer ist da?“
Vera fuhr zusammen und bremste ihre Schritte, aber Mira erfasste die Situation schneller. Innerhalb von Sekunden packte sie Vera am Arm und rannte blindlings geradeaus los.
„Stehen bleiben!“, schrie die Stimme, und die Schritte ihres Verfolgers waren nun, da sie ihn bemerkt hatten, auf dem harten Kopfsteinpflaster deutlich zu hören. Sie kamen rasend schnell näher.
Die Eingangstür zu „Porters Höhle“ war verschlossen, die Fenster allesamt stockfinster. Das heißt … nein, in einem Fenster, das auf den Hinterhof hinausblickte, schimmerte ein blasses Lichtchen. Ein kleiner, tastender Lichtkegel, wie der, der Mira schon so oft hätte verraten können, wenn sie heimlich in ihrem dunklen Zimmer gelesen hatte.
„Hier rüber!“, flüsterte sie so laut, wie ihre zugeschnürte Kehle es zuließ. Sie zerrte Vera über das Mäuerchen und sprang mehr gegen die Fensterscheibe, als dass sie dagegenklopfte. Den heimlichen Leser dahinter erschreckte sie wahrscheinlich halb zu Tode. Die Taschenlampe erlosch schlagartig.
Der andere Lichtkegel hingegen hatte sie fast erreicht. Vera und Mira blieb keine andere Wahl, als sich bäuchlings hinter dem Mäuerchen auf den Boden zu pressen. Zwischen dem staubigen Pflaster und ihrem hämmernden Herzen spürte Mira das Buch, das ihr das alles eingebrockt hatte. Es drückte seine Lederstruktur in ihre schweißnasse Haut und erinnerte sie daran, wie schlecht es um sie stand, wenn der Mann mit den schweren Stiefeln, die nun unweit von ihnen innehielten, sie bemerkte. Sie waren keine normalen Ausreißer oder Leute, die verbotenerweise nach der Sperrstunde draußen herumwanderten. Mit einem Buch wie dem unter Miras Bluse kam man nicht mit einem Arrest oder einer Verwarnung davon.
Die Stiefel des Mannes knirschten bei jedem nun vorsichtiger gesetzten Schritt auf dem steinernen Grund. Der Lichtkegel tastete weiter über die Straße und in die Hauseingänge. Die weiße Wand von „Porters Höhle“ warf den Schein zurück auf den Mann, und Vera entfuhr ein Quieken.
Miras Hand schnellte über die Schulter ihrer Freundin und legte sich über deren Mund, während ihr Arm sie fest auf den Boden presste. Sie hatte gesehen, was Vera gesehen hatte: Es war Filip. Aber heute, hier, in dieser Situation änderte diese Tatsache rein gar nichts. Er war ein Wachmann, und sie waren Straftäter – Bruder und Schwester hin oder her.
Filip musste Vera gehört haben, denn er schnellte herum und hob die Taschenlampe höher, sodass sie nun über sie hinweg den hinteren Teil des Hofes beleuchtete. Mira glaubte fast, die Hitze des Lichts zu spüren, während es sich näher und näher tastete. Es hatte die beiden im Schmutz liegenden Mädchen fast erreicht.
Ein jähes Geräusch, nicht weit von ihnen, ließ den Lichtkegel zurückjagen. Mira hatte keine Ahnung, was Filip darin sah, aber es schien von größerem Interesse zu sein als der Rest des Hinterhofes.
„Hoppla“, ertönte ein tiefer Bass hinter ihr, und der Geruch von süßem Tabak ließ Mira das Herz in die Hose sinken. Nun war das Chaos komplett. Edmund Porter hatte sein Haus verlassen und stand nur wenige Meter hinter ihnen. Ihm allein musste sich die ganze Szene auf einen Blick erschließen. Filip mit Uniform, Abzeichen und Taschenlampe und zwei Mädchen, die sich in der Dunkelheit seines Hinterhofes auf den Boden pressten, als hinge ihr Leben davon ab. „Mir war doch, als hätte ich hier draußen einen Lichtschein gesehen“, sagte er nach kurzem Zögern.
„Edmund Porter.“ Filip tippte sich an den Hut. „Es ist spät. Sie sollten das Haus nicht verlassen.“ Seine knappen Feststellungen erinnerten nicht einmal entfernt an die umständliche Ausdrucksweise, die Mira von ihm kannte.
„Oh, das hatte ich doch nicht vor“, versicherte Edmund Porter ruhig. Vielleicht, überlegte Mira, konnte er sie gar nicht sehen. Vielleicht verbarg der Schatten des Mäuerchens sie auch vor ihm. „Ich bin nur ein neugieriger alter Mann, der nicht schlafen kann und beim Lesen einen Lichtschein in seinem Hof gesehen hat.“
„Das war ich. Sie können wieder hineingehen“, sagte Filip schroff. „Ich habe etwas gehört.“
„Und das wiederum könnte dann wohl ich gewesen sein“, erwiderte Edmund Porter, der keineswegs wieder nach drinnen gegangen war. „Sehen Sie, ich füttere die streunenden Katzen in der Nachbarschaft, und erst eben habe ich ihnen diese Schüssel nach draußen gestellt.“
Der Lichtkegel bewegte sich. Vermutlich leuchtete Filip in die von Edmund Porter gewiesene Richtung, und aufgeschreckt von der Helligkeit, stoben in der Tat zwei oder drei Straßenkatzen davon.
Filip zuckte zurück und richtete den Lichtkegel wieder auf Edmund Porter. „Streuner also.“ Seiner Stimme fehlte jede Herzlichkeit. „Ich schlage vor, dass Sie trotzdem wieder nach drinnen gehen. Und sich den Straßenkatzen in Zukunft besser am Tage erkenntlich zeigen. Sie bringen sich noch in ernste Schwierigkeiten.“
„Verzeihung“, sagte Edmund Porter, und dann herrschte Stille. Die Tür fiel ins Schloss, der Lichtkegel erzitterte ein wenig, dann zog er sich zurück und begleitete Filip die Straße hinab.
Als Vera sie zwickte, wurde Mira sich bewusst, dass sie ihr immer noch mit aller Kraft die Hand auf den Mund presste. Rasch ließ sie los und spürte, wie ein Kribbeln durch ihren vor Anspannung steif gewordenen Arm wanderte. Ihr ganzer Körper fühlte sich verkrampft an, und plötzlich war sie furchtbar erschöpft.
Ein Klicken ließ sie beide zusammenfahren. Die Tür hinter ihnen war aufgesprungen. „Schsch“, ertönte eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit dahinter. „Hier rein. Schnell.“
Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen.
Mira hatte noch nie das Gesetz gebrochen. Mit einem Staatsbeamten zum Vater hatte sie dazu auch reichlich wenig Gelegenheit gehabt. Gerald Robins hatte stets zwei besonders wachsame Augen darauf gehabt, dass seine Tochter auf dem rechten Weg war und blieb.
Aber nach dem Diebstahl des Buches hatte eines zum anderen geführt. Innerhalb von kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hatte sie gestohlen, eine verbotene Schrift gelesen, ihre Freundin