Er, Sie und Es. Marge Piercy

Er, Sie und Es - Marge Piercy


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angeboten. In anderen Fluren hausierten Händler mit dem Abfall der Zeiten: Müll aus den Enklaven, Gerümpel aus dem vorigen Jahrhundert, zu Möbeln, Kleidern, Waffen umgearbeitet, verdrahtete Skelette von ausgestorbenen Exoten wie Rotkehlchen und Grasmücken, ausgeschlachtete Teile, die zu behelfsmäßigen Robotern umgebaut waren. Ihr Blick fiel auf ein Messer aus organischem Harz, das sich mit Prüfgeräten nicht ausmachen ließ.

      »Wie viel Betty für den Stecher?«

      »Für dich, Prinz?« Hinter der Metallmaske glitzerten blutunterlaufene Augen. Sie zuckte zusammen. Prinz war jemand mit Geld. Sie konnte die Glop-Sprache nicht sprechen und wurde sofort als Grützer erkannt, als Multi-Angestellte. »Cuarenta dos. Zweiundvierzig. Der Stecher jault nicht unterm Strahl.«

      »Treinta. Dreißig.« Sie ließ das Messer wieder in die Auslage fallen.

      Sie feilschten noch fünf Minuten nach altem Brauch. Sie bezahlte sechsunddreißig. Er hatte ein reguläres Kredit-Gerät. Sie zog den Handschuh aus und steckte vorsichtig die Hand hinein. Er hatte das Gerät manipuliert, so dass anstelle des Betrags und der Gutschrift ihr Kontostand erschien.

      »Ey, Prinz, harte Zeiten, was? Abgebrannt wie ’ne leere Wand. Du klingst como junges Fleisch. Ich hab ’n sauberen kleinen Käseladen …«

      Sie steckte das Messer in den tiefen Saum ihres Ärmels und schritt hinaus. Heiß war es, heiß, heiß, heiß. Ihr Hirn schmolz in den giftigen Dämpfen. Sie war hungrig und durstig. Sie besaß noch etwas Wasser, das musste ihr reichen. Sie hatte keine Ahnung, welche Krankheiten zurzeit im Glop grassierten, aber es gab ständig neue Arten von Typhus und Hepatitis, neue Virusplagen, die immer noch von den Tropen auf Eroberung ausgingen. Sie musste ihren Hunger eben ertragen. Es nutzte nichts, sich auszumalen, woraus die › Burger‹ oder ›Sushi‹ gemacht waren, Tier, Pflanze, Mineral. Ob sie in ihrer vorigen Inkarnation gelebt hatten oder nicht, jetzt wimmelten sie nur so von ortsüblichen Protozoen und Bakterien. Die Essensgerüche ließen ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber sie verlangsamte keine Sekunde ihre Schritte. Geh rasch, aber renne nie. Alte Straßenregel. Einige der Speisen wurden auf Holzkohle gegrillt, andere auf Laserbrennern gekocht, wieder andere wurden einfach über Feuern gewendet, auf dem Boden des alten Gebäudekomplexes, den Tunneln, die einmal ein Untergrundverkehrssystem gewesen waren. Teile der alten Anlage waren überflutet; der Rest war bewohnt.

      Die meisten der Händler hockten ebenfalls in schwarzen Umhängen da, Gangmitglieder hingegen waren an ihren Uniformen zu erkennen, an Bemalungen, Tätowierungen, daran, dass sie wagten, ihre Waffen, Beine, Gesichter und Brustkörbe zu zeigen. Sie trugen Waffen offen zur Schau, alles Mögliche von Messern bis zu Lasergewehren; offiziell waren Waffen illegal, aber die einzigen Gesetze, die hier galten, waren die Reviergesetze der Gangs, die einen Teil des Glop kontrollierten. Sie trafen sich zu Raubzügen oder Palavern mit Bittstellern, verunsicherten Marktplätze und öffentliche Orte wie die U-Bahnstationen, die Krankenhäuser.

      Scharfer Gestank von Urin und Kot. Ein Toter. Nein, er lebte noch. Um den Körper mit zerfetzter Brust, aus der stoßweise das Blut spritzte, stand ein singender Kreis von Gangniños. Alle trugen abgeschnittene Jacken in Violett und Gold, den Rücken schmückte eine zähnefletschende Ratte, Blitze schossen ihr aus den Augen, ihr Körper pulsierte, eingefangen in unendlicher Sprungbewegung, immer und immer wieder. Sie sangen ihr Mordlied. Shira blieb stehen, ging weiter. Fünf Minuten später könnte sie dort liegen. Überall bekriegten sich die Zeichen von zwei Gangs, ins Pflaster gelasert, auf Wände gesprüht. Umkämpfte Reviere waren gefährliches Gebiet, Kriegszone.

      Sie sah eine Treppe vor sich. Eine Schranke war davor errichtet, bewacht von einer Gruppe, die wie der niedergestochene Junge gekleidet war. Sie hatten einen alten, notdürftig hergerichteten Handleser, und die Schlange schob sich daran vorbei. Shira ließ sich den Treppenzoll ablesen, ging durch die Sicherheitsschranke, bezahlte und stieg empor in die Ödnis. Teile des Glop waren unter Kuppeln, aber bevor der Ausbau abgeschlossen war, hatte die Regierung aufgehört zu funktionieren. Es gab immer noch Wahlen, alle zwei Jahre, aber das waren nur noch Sportereignisse, auf die hohe Wetten abgeschlossen wurden. Die Tätigkeit der Politiker beschränkte sich darauf, sich um ein Mandat zu bewerben. Jeder Sektor wurde von den Resten der alten UNO verwaltet, der Ökopolizei. Nach dem Tod der zwei Milliarden in der Zeit der Großen Hungersnot und der Seuchen hatte sie die Hoheit zu Lande, zu Wasser und in der Luft, außerhalb der Kuppeldome und Schutzhüllen. Ansonsten regierten die Multis ihre Enklaven, verteidigten die freien Städte sich, so gut sie konnten, und verrottete der Glop unter dem giftigen Himmel, beherrscht von sich befehdenden Gangs und Bossen.

      Draußen rückte sie ihre Schutzbrille zurecht und schaute sich nach einem Transportmittel um. Kurzstrecken-Peditaxis konnten sie nicht aus dem Glop hinausbringen. Sie war nicht weit vom nördlichen Siedlungsrand. Sie musste ein Schwebauto mieten. Sie hörte einen hohen Heulton und warf sich in eine Gebäudenische, bevor die Armada der Staubreiter in einem Sturmwind aus Geschwindigkeit und blitzendem Metall über den Platz raste. Nicht alle waren schnell genug. Blut sprühte aus der Staubwolke. Als sie vorbei waren, lagen Gliedmaßen von zwei Körpern über das brüchige Pflaster verstreut. Sie bahnte sich ihren Weg vorbei an Hundemeuten, die sich um das Fleisch balgten, zu den Schwebautos, die am nördlichen Ende des Platzes angeschlossen waren. Ein Frachtbehälter hatte am östlichen Ende des Platzes Halt gemacht, und eine Ansage rief nach Aufsammlern und Bottichjungen. Aus den zerfallenden, bis in den letzten Winkel dicht bewohnten Gebäuden drängten Massen Arbeitsloser zu dem Behälter.

      An der Einfriedung um die Schwebautos steckte sie ihre Hand in den Leser, und der Monitor ließ sie eintreten. Der Autochef stellte die Koordinaten ein. Versuchte sie, diese zu ändern, würde das Auto einfach anhalten. War sie angelangt, kehrte es automatisch zurück. Sie bezahlte im Voraus. Ihr ging allmählich der Kredit aus, doch sie hoffte, in einer Stunde zu Hause zu sein. Das Schwebauto fuhr auf einem Luftkissen über die alten zerborstenen Straßen. Es konnte für kurze Strecken in niedriger Höhe fliegen, was häufig nötig war, um einen Fluss zu überqueren oder eine Schlucht, an der eine Brücke zusammengebrochen war. Es war solarbetrieben, leise und nicht besonders schnell. Es konnte auch Wasserflächen überqueren, was wichtig war, denn wenn man eine Strecke eine Weile nicht gefahren war, wusste man nie, wie weit die See ins Land eingedrungen war und tiefer liegende Gebiete überflutet hatte. Was vor drei Jahren noch Festland gewesen war, mochte schon unter Wasserwogen begraben sein, denn seit die Polkappen rasant abschmolzen, stiegen die Weltmeere ständig. Schwebautos waren die Fahrzeuge der Konzern-Grützer und der freien Städte. Schnellpanzer konnten ebenfalls zerklüftetes Gelände überwinden und waren zudem bewaffnet. Konzerndienstreisen wurden meist in Schwirrern zurückgelegt.

      Ein gemietetes Schwebauto stellte keine hohen Anforderungen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als es um und über Hindernisse zu lenken. Es hatte die Koordinaten ihres Ziels und fuhr von allein. Am Himmel kreiste eine weite Spirale von Aasgeiern. Sie konnten inzwischen der UV-Strahlung widerstehen. Sie konnten in der Ödnis überleben, wie auch die meisten Insekten, wie auch Möwen und Ratten und Waschbären. Menschen nicht. Singvögel nicht, alle tot. So gedieh das Ungeziefer und suchte in Wellen das Land heim, fraß die Hügel zu Wüste. Erosion tat ein Übriges. Krüppelbäume wie Pechkiefer, Wildkirsche und Bäreneiche hatten Zuckerahorn und Weymouthkiefer verdrängt. Brombeersträucher und Hundsrosen wucherten in undurchdringlichem Dickicht, dem sie auswich.

      Das Auto schlug automatisch den Weg nach Osten ein, zum Ozean, vermied dabei den Rand der Cybernaut-Enklave. Multis gestatteten privaten oder gemieteten Autos nicht die Durchfahrt. Sobald sie die Enklave mit ihrer grünen Parklandschaft und der funkelnden City unter dem Kuppeldom umfahren hatte, gelangte sie in das Gebiet der freien Städte entlang der Küste. Die Straße, der sie nun folgte, führte geradewegs ins Meer, denn die tief liegenden Küstenstädte waren im Großen Wirbelsturm von ’29 zerstört worden. Die Hülle von St. Marystown glitzerte unter der Bernsteinsonne. Die Wellen rochen nach Petroleum und Salz. Jetzt konnte sie die Anhöhe aus dem Wasser ragen sehen, auf der ihre Stadt, Tikva, erbaut war. Die Schutzhülle schwebte auf Stützen darüber wie eine leuchtende Wolke. Shira steuerte das Auto an Land und den Hügel hinauf nach Tikva. Sie landete vor dem Tor, das dem Meer zugewandt war, stieg aus und ließ das Auto wenden und abdrehen.

      Sie stand mit ihrem Bündel vor dem Tor. Erst jetzt fiel ihr ein, den schwarzen Umhang abzulegen. Nichts


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