Er, Sie und Es. Marge Piercy

Er, Sie und Es - Marge Piercy


Скачать книгу
Übertragung waren sie Freunde, aber Gadi in Fleisch und Blut war mehr, als sie sich zumuten wollte. Wahrscheinlich konnte sie sich in die Stadt stehlen wie als Jugendliche mit Gadi, doch sie hatte keinen Grund dazu. Langsam näherte sie sich dem Monitor. Würde er ihren Handabdruck noch erkennen? Er tat es. Die Männerstimme des Stadtcomputers grüßte sie mit Namen. »Shira, Malkah Shipman erwartet dich. Avram Stein erwartet dich. Willkommen.«

      Sie war verlegen, weil ihr Tränen in die Augen schossen, während sie den Umhang in ihre Schultertasche stopfte. Einen Augenblick später war sie froh, dass sie nicht versucht hatte, sich hineinzustehlen, denn sie begegnete zwei jungen Leuten, die Wache hielten. Als Sicherheitskräfte waren sie mit Pfeilgewehren ausgerüstet, die lähmend wirkten. Sie hatten gehört, wie der Monitor sie begrüßte, und nickten sie vorbei. Die Lage musste angespannt sein, dass Menschen an der Umgrenzung Wache hielten. Die freien Städte waren nicht berechtigt, Laserwaffen zu kaufen, auch wenn sie es manchmal auf dem Schwarzmarkt taten. Sie verließen sich überwiegend auf Schocker und Tranquilizer oder auf Sonarwaffen.

      Unter der Schutzhülle zu gehen war anders als unter einem Kuppeldom. Die Hülle war durchlässiger für Licht und Wetter, eigentlich hielt sie nur die UV-Strahlen ab. Die Temperatur drinnen war nur geringfügig höher als draußen. Die Umgrenzungen wurden durch Computer überwacht; überschritt jemand die Schranke, löste er Alarm aus. Die Tore mit Handlesern gingen in jede Hauptrichtung. Tobte ein Wirbelsturm, was inzwischen oft vorkam, konnte die Hülle zu ihrem Schutz eingerollt werden. Die freien Städte waren entlang der Küste aus dem Boden geschossen, denn solch ein Standort war verwundbar und galt als gefährdet; kein Multi mochte Überflutung riskieren. In dieser unbeanspruchten Randzone gediehen die freien Städte.

      Shira schlenderte durch die Straßen. Alle Gebäude waren verschieden, obwohl keines höher als vier Stockwerke sein durfte. Manche Häuser waren aus Holz gebaut, andere aus Ziegelsteinen, andere aus den neuen Harzen, andere aus Polymeren, wieder andere aus Stein. Shira fand die Harmonien und Disharmonien reizvoll – kleine spanische Haciendas, strenge klassizistische Villen, Holzschindelhäuser mit Steildach, ein Nachbau von Fernandez’ berühmtem Tanzenden Haus auf seinem Sockel, alle drängten sich Schulter an Schulter im gleichen Block. Nach der Einförmigkeit der Y-S-Enklave versetzten die Farben, die Strukturen, die Geräusche und Gerüche sie in einen Zustand des Entzückens, und sie merkte, wie sie immer langsamer ging und den Kopf wild hin und her drehte wie eine Blöde. Warum war sie je fortgegangen?

      Es war auch ein seltsamer Anblick, dass die Dinge alt waren, rissig, verwohnt, Häuser, die einen Anstrich brauchten, ein mit Brettern vernageltes Fenster, ein kaputtes Geländer. Die Menschen hier führten ihre Reparaturen selber aus, wann sie die Zeit dafür fanden. Anarchische kleine Tulpenbeete und Tomatenpflänzchen, Bohnensprossen, die sich daranmachten, ihre Stangen zu erklettern, säumten die Straßen. Um halb drei waren fast alle an der Arbeit. Ein Reinigungsroboter werkelte die Straße entlang, hob hier und da Abfälle auf und fegte wie ein wild gewordener Handfeger. Aus einem offenen Fenster drang Geigenspiel, jemand übte und wiederholte unablässig eine Passage von Wieniawski. Sie fragte sich, warum sie das befremdete, bis ihr einfiel, dass bei Y-S Fenster normalerweise nicht geöffnet wurden. Gelegentliche Passanten waren lässig gekleidet: am Hals offene Hemden, Hosen, ein weiter Rock, Shorts, denn der Tag war der Jahreszeit entsprechend mild. Sie kam sich lächerlich vor in ihrem Y-S-Standardanzug, der inzwischen dreck- und rußverschmiert war. Ein Paar ging an ihr vorbei, sie unterhielten sich laut über irgendjemandes Mutter, ihre Stimmen tönten unbefangen. Hinter einer Hecke bellte ein Hund ein Kaninchen in einem Verschlag an. In kleinen Vorgärten staksten Hühner umher und in einem stolzierten gesprenkelte Truthähne. Ari wäre ganz aus dem Häuschen beim Anblick lebender Tiere. Die Gerüche überfielen sie: Tiergerüche, Gemüsegerüche, der Duft der gelben Tulpen, der schwerere Duft der Narzissen, Kochdüfte, der scharfe Dunst eines Misthaufens, der salzige Atem der See. Alles wirkte … ungeregelt. Wie unterernährt, wie verkümmert waren ihre Sinne in all diesen Y-S-Jahren. Wie kalt und träge kam ihr diese Konzern-Shira vor, als sie nun spürte, wie sie auftaute.

      Das Haus ihrer Kindheit: von der Straße her ein unerschütterliches, quadratisches Schindelhaus, zwei Stockwerke boten eine Reihe großer, unterteilter Fenster. Es hatte sein Geheimnis, nämlich dass es um einen Innenhof gebaut war wie die Synagoge, in die sie immer gegangen war, die mit Namen Wasserschul. Niemand vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert hatte Blumen und Obstbäume, kleine Vögel und die schlichte Schönheit grüner Blätter jemals so geliebt wie die Menschen, die nach der Hungersnot lebten. Für die waren sie kostbar und selten und ständig gefährdet. Shira war nach der Hungersnot geboren, nachdem die steigenden Ozeane viele der Reis- und Brotkörbe der Welt unter sich begraben hatten, nachdem die steigenden Temperaturen die Meeres- und Luftströmungen verlagert und einstiges Ackerland in Wüste und Steppe verwandelt hatten, nachdem das Versiegen der Ölquellen der Agrarwirtschaft zu Lande ein Ende bereitet hatte; doch die Auswirkungen und Geschichten der Hungersnot hatten ihre Kindheit geprägt.

      Malkah wartete im Innenhof. »Ach Shira, endlich bist du zu Hause.«

      »Seit Ari geboren ist, wollte ich ihn hierherbringen, damit ihr euch kennenlernt. Jetzt bin ich hier, aber ohne meinen Sohn. Was hat das für einen Sinn?«

      »Zeit für dich, nach Hause zu kommen. Aber hier ist es gefährlich. Wir stehen unter Belagerung. Wir reden später darüber. Jetzt komm und lass dich in die Arme nehmen.«

      Malkah kam ihr kleiner vor, zerbrechlich und doch fest. Die gelbe Rose rankte sich immer noch an der Wand empor, im Innenhof standen immer noch Pfirsich- und Pflaumenbäume, wuchsen immer noch Weinstöcke und Kosmeen, Kürbis- und Tomatenpflanzen, fast ein Garten Eden. Shira hielt Malkah an sich gedrückt, ahnte die Stärke ihrer Großmutter, ihr Alter. Malkah war für sie immer alt gewesen, denn Malkah war eine bobe, und Großmütter waren alt, aber Shira wurde im Nachhinein klar, welch junge und außerordentlich vitale Großmutter Malkah gewesen war. Malkah war 1986 geboren, also musste sie jetzt zweiundsiebzig sein.

      Shira verspürte eine Erleichterung, als habe eine Spannung, die schon so lange andauerte, dass sie sie nicht einmal mehr als Spannung wahrgenommen hatte, plötzlich nachgelassen, als habe ein hoher Maschinensummton im Hintergrund plötzlich aufgehört, so dass eine selige und bestürzend reiche innere Stille sie durchströmte. Das war das Zuhause, dem sie entflohen war, nicht aus einer unglücklichen Kindheit, sondern aus einer zu frühen und zu heftigen Liebe, einem zerrissenen Paradies.

      5

Shira

      Vor fünfzehn Jahren: Der Tag des Alef

      Mit dreizehn hatte Shira leidenschaftlich und heimlich geliebt und war wiedergeliebt worden. Sie wusste aber auch, dass dies etwas war, was alle verurteilten und schlechtmachten – alle außer Gadi und ihr.

      Sie liebte nicht Gadi allein, nur ihn am glühendsten. Sie liebte auch ihre Großmutter Malkah und ihren großen, geschmeidigen braunen Kater Hermes. Hermes hatte zu ihr gehört, seit sie ihn als kleines Kätzchen in der Ödnis ausgesetzt gefunden hatte, wo er unweigerlich eingegangen wäre. Katzen waren nicht ans Überleben in der Ödnis angepasst. Er war wertvoll, denn die Stadt wurde von einer Mäuseplage heimgesucht. Mäusen und Mücken gefiel das Leben unter der Hülle. Er war für Shira kostbar, denn er liebte sie ohne Kritik, ohne Anspruch und ohne Ende. Malkahs Liebe war stark, aber rau, schrubbte sie sauber. Gadis Liebe trug Rosen und auch Dornen, wie die ausladende Kletterrose vor ihrem Schlafzimmerfenster, die sich an der Hofmauer bis zu ihr emporrankte.

      Ihre Großmutter hatte sie aufgezogen, so war es bei den Frauen ihrer Familie Brauch. Malkah erzählte ihr, wenn eine Frau ein Kind bekam, so blieb es bei ihrer Stammlinie. Männer kamen und gingen, aber sie sollte sich einprägen, dass ihr erstes Kind ihrer Mutter und ihr gehörte, nie dem Vater. Malkah sagte, Liebe sei hauptsächlich Unsinn und Selbsthypnose, und Männer seien im Großen und Ganzen ein Gewinn bei der Arbeit und ein Genuss im Bett, aber ansonsten erwarte nicht viel. Von ihr erwartete Malkah viel. Sie war die Tochter der Stammlinie.

      Shira wusste es besser. Mit dreizehn wusste sie viel mehr über die Liebe als Malkah. Malkah mochte sagen, Männer seien etwas Vorübergehendes, aber Gadi war es nicht. Gadi hatte zu ihr gehört,


Скачать книгу