Er, Sie und Es. Marge Piercy
Samsons Aufgabe
1
ShiraIn der Konzernfestung
Josh, Shiras Exmann, saß direkt vor ihr im Familiengericht, wo sie darauf warteten, dass das Urteil über das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Ari auf dem großen Bildschirm erschien. Joshs Dienstanzug war rückenfrei, weiß für den förmlichen Anlass, dem ihren sehr ähnlich. Eine Schweißperle rann die Rinne seiner Wirbelsäule hinab, und selbst jetzt noch fiel es ihr schwer, nicht sanft mit ihrem Schal darüberzustreichen, um sie zu trocknen. Der Yakamura-Stichen-Kuppeldom in der Wüste von Nebraska war selbstverständlich klimatisiert, sonst wären sie alle tot, aber jetzt war Winter, deshalb durfte die Temperatur nachmittags, wenn die Sonne den ungeheuren Kuppeldom um die Konzern-Enklave aufheizte, auf natürliche dreißig Grad Celsius steigen. Auch Shira hatte schweißfeuchte Hände, aber vor Nervosität. Sie war an einem natürlichen Ort aufgewachsen und hatte sich die Fähigkeit bewahrt, mehr Hitze zu ertragen als die meisten Y-S-Grützer. Immer wieder sagte sie sich, dass sie nichts zu befürchten hatte, doch ihr Magen war schmerzhaft verkrampft, und sie merkte, wie sie sich ständig die Lippen leckte. Wann immer sie auf ihrer inneren Uhr die Zeit aufrief und im Augenwinkel auf ihrer Hornhaut ablas, war es höchstens eine Minute später als beim letzten Mal.
Der Raum gleißte in schwarzem und weißem Marmor, höher als breit und auf Einschüchterung angelegt, so wusste Shira aufgrund ihrer Ausbildung in Psychodesign. Ihr eigentliches Gebiet waren die Schnittstellen zwischen Menschen und den gewaltigen künstlichen Intelligenzen, die die Operationsbasis jedes Konzerns bildeten – wie auch jeder anderen Einheit, die Informationen produzierte und verarbeitete. Auch das Netz, das alle Welt miteinander verband. Aber Shira wusste genug über Psychologie, um die Absicht des Saalbaus zu erkennen, wo sie mit ihren zugewiesenen Anwälten saßen, aufrecht und steif wie Stimmgabeln in Erwartung des Schlages, unter dem sie zu Klang erzittern würden. Um sie herum hockten ähnliche Wartegrüppchen: Bruch des Ehevertrags, Sorgerecht, Versäumnis- und Missbrauchsklagen, und alle starrten sie auf den leeren Bildschirm. Von Zeit zu Zeit erschien dort ein Gesicht, eins dieser chirurgisch modellierten Y-S-Idealgesichter – blondes Haar, blaue Augen mit doppelter Lidfalte, gemalte Brauen wie Hokusai-Pinselstriche, Adlernase, dunkelgoldener Teint. Es verkündete ein Urteil, dann wirbelte eine der Gruppen umeinander, stand auf und ging, manche strahlten, manche blickten finster, manche weinten.
Sie brauchte sich gar nicht dermaßen zu fürchten. Sie war ein Techno wie Josh, kein Tagelöhner; sie hatte Rechte. Ihre Hände brüteten feuchte Flecke auf ihren Hüften. Hoffentlich wurde das Urteil bald verkündet. In fünfundvierzig Minuten musste sie Ari in der Mittelstufentechno-Tagesstätte abholen, das waren vom Behördensektor aus rund zwanzig Minuten Gleitweg. Sie wollte nicht, dass er warten musste, dass er Angst bekam. Er war erst zwei Jahre und fünf Monate alt, und sie konnte ihm nicht einfach erklären: Keine Sorge, Mami kommt vielleicht ein bisschen später. Es war ihre Schuld, sie hatte im Dezember auf der Scheidung bestanden. Seitdem war Ari scheu und Josh verbittert, wütend. Doppelt so lebendig. Wenn er in ihrer Ehe die Leidenschaft entfesselt hätte, die ihr Weggang auslöste, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt. Er bekämpfte sie mit aller Kraft und Intelligenz, so, wie sie hatte geliebt werden wollen.
Alles war ihre Schuld. Sie hätte Josh nie heiraten dürfen. Sie hatte in ihrem Leben nur ein einziges Mal leidenschaftlich geliebt, zu jung, und dann nie wieder. Aber wenn sie Josh nicht geheiratet hätte, gäbe es Ari nicht. Ja, sie fühlte sich schuldig, als sie auf Joshs schmalen Rücken schaute, auf die Riffel seiner Wirbelsäule, verletzlich, leicht vorgebeugt, als bliese ein kühler Wind nur auf ihn. Sie hatte gelobt, ihn zu lieben, sie hatte versucht, ihn zu lieben, aber die Beziehung hatte sich seicht und unvollständig angefühlt.
In der Zeit vor der Heirat dachte sie noch, er lerne langsam, mit ihr zu reden, sinnlicher und direkter zu reagieren. In dem wiederbelebten Schintoismus von Y-S waren sie beide Marranos, der Ausdruck war von spanischen Juden entlehnt, die sich unter der Inquisition als Christen ausgegeben hatten, um zu überleben. Y-S pflegte eine Art Erweckungs-Schintoismus, dem christliche Bräuche wie Taufe und Beichte aufgepfropft waren. Marranos waren im zeitgenössischen Sprachgebrauch Juden, die für Multis arbeiteten, in die Kirche oder Moschee gingen und Lippenbekenntnisse ablegten, dabei aber im stillen Kämmerlein Judaismus praktizierten. Alle Multis hatten ihre offizielle Religion als Teil der Konzernkultur, und alle Grützer mussten sie pro forma übernehmen. Wie Shira pflegte auch Josh die Gewohnheit, Freitagabend bei sich Kerzen anzuzünden, die Gebete zu sprechen, die Feiertage einzuhalten. Es schien vernünftig, zu heiraten. Er war seit zehn Jahren bei Y-S. Sie kam direkt von der Universität, mit dreiundzwanzig. Y-S hatte die anderen Multis überboten und sie in Edinburgh angeheuert – wie die meisten begabten Schulabgänger aus Norika, dem einst aus USA und Kanada bestehenden Kontinent, hatte sie im prosperierenden Sektor Europa studiert –, und so blieb ihr keine Wahl als hierherzukommen. Sie hatte sich sehr allein gefühlt. Die rigide, einem strikten Protokoll folgende Hierarchie von Y-S befremdete sie. Sie war in der freien Stadt Tikva aufgewachsen, war an warme Freundschaften mit Frauen gewöhnt und an Männer, die ihre Kameraden sein konnten. Hier war sie verzweifelt einsam und eckte ständig an. Oft fragte sie sich, ob ihre Schwierigkeiten speziell mit der Y-S-Konzernkultur zu tun hatten oder ob sie sich in jeder Multi-Enklave gleich bleiben würden. Es gab dreiundzwanzig große Multis, die die Welt unter sich aufteilten, mit Enklaven auf jedem Kontinent und auf Raumstationen. Gemeinsam übten sie die Macht aus und erzwangen den Konzernfrieden: Überfälle, Attentate, Scharmützel kamen vor, aber keine Kriege seit dem Vierzehntagekrieg von 2017.
Josh war als Sohn israelischer Eltern geboren worden, Überlebenden des Vierzehntagekrieges, den ein Terrorist mit einer nuklearen Vorrichtung angezettelt hatte, welche Jerusalem von der Landkarte brannte. Ein Inferno biologischer, chemischer und nuklearer Waffen, das die Ölfelder entzündete und die gesamte Region verwüstete. Mit zehn Jahren wurde Josh zur Vollwaise und zog ohne Heimatland umher. Das war die Zeit, welche die Juden Die Wirren nannten, als die ganze Welt ihnen die Katastrophen zur Last legte, die in einem Mahlstrom von wirtschaftlichem Chaos der Ölabhängigkeit den Garaus machten. Nichts war ihm in seinem Leben je zugefallen. Je mehr er sie an sich heranließ und ihr erzählte, desto kostbarer erschien er ihr, in dieser emotional aufgeladenen Zeit vor ihrer Heirat, und desto mehr meinte sie, ihm absolut unersetzlich zu sein. Sie war erstaunt darüber, dass sie ihn anfangs als kalt empfunden hatte. Wie hatte er gelitten! Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen.
Allmählich schien er sich zu öffnen. Kurz nach ihrer Heirat, auf der er bestanden hatte, begann er sich zurückzuverwandeln. Er gab sich glücklich. Er wirkte entzückt von ihr – doch nur aus sicherem Abstand. Sie näher kennenzulernen, sein Seelenleben mit ihr zu teilen und Anteil an dem ihren zu nehmen, solcher Zeitvertreib schien ihm müßig, entbehrte der Dringlichkeit. Ari sollte die Kluft zwischen ihnen überbrücken. Seit der Geburt ihres Sohnes konzentrierte sich Joshs ganze Freizeitenergie auf Ari. Oft beschlich sie der Verdacht, hätten sie Ari nicht, so gäbe es gar nichts, worüber sie reden könnten. Das Schweigen gellte ihr in den Ohren. Bald kochte sie vor Groll. Sie fochten täglich vierzig Zweikämpfe aus, um nichts. Ihre Großmutter Malkah hatte es ihr prophezeit, als sie Josh heiratete: Sie hatte einen folgenschweren Fehler begangen. Ihr Zusammenleben vereinte die Nachteile des Alleinseins und des Lebens mit einem Fremden. Meinungsverschiedenheiten wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung. Sie war in einem liebevollen Haushalt aufgewachsen, denn Malkah war resolut und eigensinnig, aber auch warmherzig und fröhlich. Man musste nicht pausenlos erbitterte Kleinkriege austragen. Shira hatte alle Kraft zusammengenommen und ihn verlassen.
Sie rief wieder die Zeit auf ihre Hornhaut. Nur vier Minuten waren vergangen, seit sie zum letzten Mal nachgesehen hatte. Schließlich erschien das langschädelige