Er, Sie und Es. Marge Piercy
nicht von ihm abschotten, indem sie in diese völlige Überflutung von Sinnesreizen eintauchte: die exquisiten Empfindungen irgendeiner Schauspielerin, verfolgt von zwergenwüchsigen Menschenfressern oder im Orbit auf Nuevas Vegas mit vier Liebhabern zugange, durchpumpt von Gefühlen.
»Computer, letzte Anfrage speichern und ausführen … Wie konnte er dein Kind wegnehmen?«
»Sie haben hier patriarchales Recht. Der Junge gilt als Eigentum der väterlichen Genlinie – und, Gadi, du weißt, dass ich ihn geheiratet habe. Obendrein hat er einen höheren Technodienstgrad als ich.«
»Warum hast du auch diesen Blödsinn gemacht?« Gadi zog eine Grimasse. »Ich habe dir gesagt, du sollst diesen Wurm nicht heiraten. Ein-Heirat ist altmodisch und trostlos.«
»Du hast nie versucht, Josh zu verstehen … Im Moment geht es zwischen uns niederträchtig zu, bösartig. Ich habe ihm entsetzlich wehgetan, Gadi.« Es tat so wohl, mit ihm zu reden. Anfangs schickten sie sich immer Eröffnungssalven und dann diplomatische Botschaften aus ihren gegnerischen Festungen, doch schon nach fünf Minuten tauschten sie Vertraulichkeiten aus. Auf geheimnisvolle, zarte Weise waren sie immer noch miteinander verquickt. Erst gestern Abend hatte sie an ihn denken müssen, während sie mit Malcolm ins Bett stieg, und so würde es wohl bis ans Ende ihres Lebens bleiben. Und jetzt am Morgen saßen sie da und plauderten miteinander. »Gadi, bei Y-S heiraten die meisten. Es wird darauf gedrungen.«
»Dieser Mann wurde geboren, um verletzt zu werden – eine Motte, die sich wieder in die Larve zurückverwandelt hat, aus der er hervorging.«
»Josh ist jemand, der mehr erdulden musste, als wir beide auch nur ahnen können. Er hat nicht einen einzigen Menschen mehr, niemanden. Er hat durch Zufall überlebt. Stell dir vor, sein Heimatland ist die Schwarze Zone.« Ein großer Brocken des Nahen Ostens wurde auf Karten in einförmigem Schwarz dargestellt, denn er war unbewohnbar und für alle verboten. Eine verpestete radioaktive Wüste.
»Du heiratest keinen Mann, weil er dir die Füße vollblutet.«
Shira zuckte zusammen, Salzgeschmack im Mund. »Ich dachte, ich könnte ihn glücklich machen.«
Gadi schnaubte verächtlich. »Das versuchen Frauen andauernd mit mir, und was bringt es ihnen? Einen wunden Arsch vom Drauffallen.«
Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Dein Vater hat mir einen Job angeboten, ist das zu glauben?«
»Warum dir?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Was will Avram mit dir anfangen?«
»Gadi, ich bin sehr gut auf meinem Gebiet, obwohl Y-S mich nicht zu schätzen weiß.«
»Für Avram arbeiten kommt überhaupt nicht in Frage, aber ich fände es schön, wenn du in Tikva wärst. Dann würde ich dich immer sehen, wenn ich mich hierher verdrücke.«
»Bevor nicht über meine Berufung entschieden ist, gehe ich nirgendwohin. Ich werde Ari nicht aufgeben. Ich war schrecklich dumm. Ich habe geheiratet, statt mein Kind meiner Mutter zu geben. Hätte ich es doch nur getan! Ich habe mit unserer Familientradition gebrochen, und jetzt habe ich ihn verloren!«
»Du hörst dich an, als ob du dich schuldig fühlst, Shira. Warum?«
»Wenn ich mich nicht in die Ehe mit Josh gestürzt hätte, wenn ich mein Kind meiner Mutter Riva gegeben hätte, wie es von mir erwartet wird, wenn ich doch bloß auf Malkah gehört hätte, dann wäre mein Kind in meiner eigenen Familie. Es ist meine Schuld. Ich habe mich für so klug, so überlegen gehalten.«
»Durch den Scheiß müssen wir alle durch, Shira. Bist du sicher, dass deine Mutter den Jungen wollte? Ich bin ihr nur ein- oder zweimal in meinem Leben begegnet. Ich kann mich kaum erinnern, wie sie aussieht.«
»Sie ist für mich eine Fremde. Sie arbeitet für Alhadarek, das ist alles, was ich weiß.«
»Du mit einem Kind, die Vorstellung fällt mir sowieso schwer, Shira. Für mich bist du selber immer noch ein Kind. Ich glaube, du hast diesen Ari erfunden, er existiert nur in deiner Einbildung.«
Eine Träne rann ihr aus dem Auge und sie fauchte vor Wut. »Gadi, sei nicht so ein Arsch. Er ist für mich realer als jeder andere Mensch auf der Welt –« Sie merkte plötzlich, dass Malcolm an ihrer Schlafzimmertür stand und lauschte. Jetzt trat er hinter sie, damit sein Bild übertragen wurde.
Gadi schien amüsiert. »Du hättest mir sagen sollen, dass du Besuch hast. Wir können ein andermal tratschen.«
Mit Malcolm neben sich konnte sie nicht die Wahrheit sagen: dass sie ihn beim Reden mit Gadi völlig vergessen hatte. Sie beendete die Übertragung und es war rundum peinlich.
Das Frühstück gestaltete sich schwierig. »Ich wusste nicht, dass du noch einen anderen Mann an der Angel hast«, murrte Malcolm. Er war ebenso groß wie Gadi, aber viel kräftiger gebaut, mit braunem Haarschopf und buschigen, herrischen Augenbrauen, mit der Angewohnheit, das Kinn vorzurecken, als befehlige er einen Angriff.
»So ist das nicht. Er ist ein alter Freund. Wir sind zusammen aufgewachsen.«
»Du hast immer wieder gelacht, als du mit ihm geredet hast. Er hörte sich nicht an wie jemand, der nur ein Freund ist.«
»Ich denke von Freunden nie als ›nur‹. Freunde sind kostbar.«
»Das richtige Wort für ihn. Sieht gut aus, wenn man solche Schmuckstücke mag.«
»Er entwirft Atmos für Uni-Par.«
»Ich tauche nie in diese Dinger«, sagte Malcolm. Das war die offizielle Devise bei Y-S, außer, es handelte sich um ein konzerninternes Programm. Dennoch senkten sich seine Mundwinkel. »Ich besitze nicht mal einen Helm, um vollständig reinzugehen. Ich benutze bloß poplige alte Elektroden … Das war doch nicht etwa Gadi Stein?«
Sie spürte, wie sie sich ärgerte, und versuchte, es höflich zu überspielen, indem sie ihn nach seinem Sandsegeln fragte. Das war ein Nachtsport, aber trotzdem gefährlich. Wie viel angenehmer wäre es gewesen, weiter mit Gadi zu quatschen. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, ihn nach seinem Vater Avram zu fragen, nach all ihren alten Freunden, nach den komplizierten Beziehungen in Tikva, nach dem letzten Politskandal, den neuesten Trends. Es war unanstrengend, mit Gadi zu reden, und mühselig, in öder, schrittchenweiser Kleinarbeit diesen Mann kennenzulernen, der von Minute zu Minute unsympathischer wirkte. Er war offensichtlich eingeschnappt und peitschte mit einem Löffel, der wie ein Mast aus der Tasse ragte, seinen Kaffee im Kreis, als wolle er ihn dafür bestrafen, dass sie ihn enttäuscht hatte. Sie wollte sich nicht mit ihm überwerfen – sie konnte keine weitere Fehde am Arbeitsplatz gebrauchen –, also würde sie einfach das Frühstück hinter sich bringen und ihn hinauskomplimentieren. Sie selbst war das Problem.
»Ich dachte, du wärst … weicher. Manchmal hast du einen Gesichtsausdruck wie ein kleines Kind, so unschuldig«, sagte Malcolm, als sei das eine Anklage. Sein Kinn reckte sich ihr entgegen, seine Brauen sträubten sich drohend.
Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass das am Kindchenschema lag: Große dunkle Augen in einem schmalen Gesicht riefen bei Säugern einschließlich Menschen die angeborene Reaktion auf Neugeborene hervor – das Rehkitz, das Kätzchen, das Hundebaby und die Shira. Während des Studiums hatte sie oft die Stirn gerunzelt, um ihre Umgebung zu zwingen, sie ernst zu nehmen. Sie war nicht mädchenhaft, scheu, unschuldig, unbekümmert, und sie wünschte sich häufig, nicht diese Fassade zu bieten, die offenbar nur Männer anlockte, die eine Kindfrau wollten. Sie war rauer, dorniger. Und die Wahrheit war, die Anstrengungen, ihren Sohn zurückzugewinnen, nahmen sie viel zu sehr in Anspruch, um sich noch um irgendeinen Mann bemühen zu können. Sie hätte sich am liebsten bei Malcolm dafür entschuldigt, dass sie seine Zeit verschwendete. Sie war eine Fata Morgana.
Heute würde sie Josh treffen, auch ein Grund, warum sie glaubte, vorgeben zu müssen, dass sie eine ernst zu nehmende neue Beziehung hatte. Sie musste sich einfach Josh stellen und versuchen, vernünftig mit ihm zu reden. Dann würde sie Ari ganze zwanzig Stunden für sich haben, von mittags bis acht Uhr früh am nächsten Morgen.
Sobald Malcolm gegangen war, bereitete sie sich in Kleidung und Benehmen psychologisch auf