Stoner McTavish - Schatten. Sarah Dreher
Wiederholungen.«
»Du hast vielleicht Nerven. Es wird sein, wie es ist.«
»Du philosophierst.«
»Klar«, sagte Gwen, »ich bin schließlich auch nervös.«
»Warum?«
»Machst du Witze? Unser erster gemeinsamer Urlaub! Die Situation ist voller Risiken.«
Sie musste lachen. »Ich hoffe, wir kommen über die Runden.«
»Wir werden klarkommen. Diese Freundschaft wurde im Himmel geschlossen.«
»Eigentlich doch wohl eher in Wyoming«, bemerkte Stoner.
»Aufgestiegen wie ein Phönix aus der Asche meiner kurzen, zerbrochenen Ehe.«
»Du weißt, Gwen, dass ich mir wirklich gewünscht habe, es möge nicht so grauenvoll für dich enden.«
»Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich bitte dich, könntest du dein Leben mit einem Mann verbringen, dessen Auffassung von einem Hochzeitsgeschenk ein blassgrüner Renault ist?«
»Immerhin«, sagte Stoner, als sie den Motor startete, »haben die Dinger ’ne unglaublich hohe Kilometerleistung.«
Sie fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, hängte sich eine Weile an einen LKW, überholte schließlich und reihte sich vor einem zigarrerauchenden, erfolgreichen Geschäftsmann mittleren Alters in einem schmutzigen Chevrolet ein. Als sie in den Rückspiegel blickte, stellte sie hochbefriedigt fest, dass seine Scheibenwaschanlage ebenfalls leer war.
Jenseits von Portland gelangten die Bäume gegenüber den Häusern in die Überzahl. Die Sonne brach durch den Nebel und spiegelte sich glänzend in Wassertropfen, die an den Spitzen der Kiefernnadeln hingen. Glitzernde Bäche, entstanden durch die erste Schneeschmelze des Frühjahres, sprudelten und tanzten über Wiesen aus niedrigem Gras. Möwenschwärme umkreisten unsichtbare Ziele und kreischten grundlos klagend.
Gwen warf einen flüchtigen Blick auf die Straßenkarte. »Ab hier müssen wir die B1 nehmen.«
Stoner steuerte die Ausfahrt an, bezahlte die Autobahngebühr und kurvte durch ein Gewirr von Überführungen, Unterführungen und Kreisverkehren, einzig und allein zu dem Zweck konzipiert, Chaos zu erzeugen und Touristen in die Knie zu zwingen. Sie bog in eine Straße ein, die mit ›B1 Norden‹ ausgeschildert war – obwohl ihr gesamter Instinkt und ihre Vernunft ihr sagten, dass sie eigentlich nur nach Süden führen konnte.
»Ich dachte immer, ich verfüge über einen guten Orientierungssinn«, sagte sie. »Aber jetzt, wo ich mich dieser Straßenführung ausliefern muss …«
»Es gibt nur zwei Richtungen«, sagte Gwen. »Die richtige und die falsche.«
Sie fuhren an einer heruntergekommenen kleinen Stadt vorbei, die aus Autofriedhöfen, Motorradgeschäften und Fabrikschornsteinen bestand.
»Bist du sicher, dass wir richtig sind?«
»Wenn wir den Schildern Glauben schenken dürfen.«
»Wenn wir in Kittery landen, bring ich mich um.«
»Vertrau mir«, sagte Gwen. »Ich hab mich noch nie verirrt.«
»Na, dann wird’s ja höchste Zeit.«
»Wenn wir in Kittery landen, drehen wir eben wieder um.«
»Es sind Leute nach Kittery gefahren, von denen hat man nie wieder etwas gehört.«
»Das stört mich nicht, solange es da ein Restaurant gibt. Ich verhungere.«
»Es gibt da schon Restaurants«, sagte Stoner, »aber sie liegen nicht an dieser Straße.«
Von Osten her kam Seitenwind auf und brachte den scharfen, modrigen Geruch von Ebbe mit sich. Die Stadt schrumpfte zu ein paar vereinzelten verwitterten Häuschen zusammen. Kein Verkehr, kein Lebenszeichen war zu sehen.
»Meinst du, es ist vielleicht etwas passiert, von dem wir nichts wissen?«, fragte Stoner.
»Zum Beispiel?«
»Super-GAU im Kraftwerk Seabrook?«
»Sie sind grad alle beim Mittagessen«, sagte Gwen. »Du erinnerst dich, Mittagessen?«
Ein festsitzender Knoten des Unbehagens machte sich in ihrem Magen bemerkbar. »Gwen, ich hab Angst vor Maine.«
»Dann lass uns nach New Hampshire fahren. In New Hampshire gibt es bestimmt Restaurants.«
»Wir müssen Pläne machen.«
»Pläne?«
»Für Schattenhain. Wir können da ja nicht einfach reinmarschieren und sagen: ›He, Sie, wo ist denn hier die Suite von Schwester Rasmussen.‹«
»Doch, eigentlich klingt das nach einer guten Idee«, bemerkte Gwen. »Vielleicht sitzen sie gerade beim Mittagessen.«
Stoner strich sich die Haare aus der Stirn. »Nancy hat gesagt, ihre Schwester erwähnte, dass es da etwas Sonderbares in Schattenhain gäbe.«
»Es ist eben ein Klinik für psychisch Kranke. Die sind immer ein wenig ›sonderbar‹.«
»Wir rufen vorher an«, entschied Stoner. »Behaupten, wir seien auf der Durchreise, alte Freundinnen von Claire Rasmussen. Wir tun so, als wüssten wir von nichts.«
»Wir wissen ja auch nicht viel.«
»Wir wissen, dass Nancy seit zwei Wochen nichts von Claire gehört hat. Auch nicht an ihrem Geburtstag. Wir wissen aber auch, dass Claire sich immer zu Nancys Geburtstag gemeldet hat.«
»Also hat sie ihn vielleicht vergessen.«
»Wenn sie behaupten, sie sei nicht da, werden wir hinfahren und uns mal umsehen.«
»Gut«, sagte Gwen, »das klingt richtig.«
»Wir müssen ein Gefühl für den Ort bekommen.«
»Warst du schon mal in einer psychiatrischen Klinik?«
»Nein, du?«
»Nein. Wie sollen wir ein Gefühl für den Ort bekommen, wenn wir überhaupt nicht wissen, was für ein Gefühl das sein könnte?«
Stoners Blick verfinsterte sich. »Wir müssen den Sprung ins kalte Wasser wagen.«
»Wunderbar«, sagte Gwen. »Das ist ein wirklich einfallsreicher, ausgetüftelter Plan. Strategisch gesehen einer der zehn besten aller Zeiten.«
»Er ist besser als der, den ich hatte, als ich nach Wyoming fuhr, um dich zu suchen.«
»Ich wurde in Wyoming nicht vermisst. Ich saß im Speiseraum des Hotels.«
»›Schattenhain‹«, sagte Stoner. »Findest du nicht, dass bei diesem Namen irgendwas Geheimnisvolles mitschwingt?«
»Nicht mehr als bei ›Glückstal‹ oder ›Sonnenhof‹.«
»Wenn wir keinerlei Auskunft bekommen, müssen wir …«
»Stoner«, sagte Gwen scharf, »nehmen wir gerade an irgendeiner religiösen Fastenkur teil, oder können wir irgendwo anhalten, um zu essen?«
»Was? Sicher. Irgendwo muss hier ja was offen sein.«
Sie kamen an einem Ferienort vorbei. Zwei Reihen identischer weißer Häuser, die sich auf einem freien Feld gegenüberstanden. In einiger Entfernung tauchte der Ozean auf. Sein unbewegter, blaugrauer Anblick rief Erinnerungen an Kinderheimaufenthalte an der Küste wach – an die dünne Schicht aus knirschendem Sand auf braunem Linoleum, Betten mit Eisengestell und weißen Überdecken, Duschkabinen mit Blechwänden und Bodenbelägen aus einem unidentifizierbaren Material, das sich an den Fußsohlen irgendwie schleimig anfühlte, und an schwere Plastikduschvorhänge, die unten über dem Boden schmutzig aussahen, als wären sie voller Rost oder altem Blut.
»Zu schade, dass Marylou nicht hier ist«, sagte Gwen.