Stoner McTavish - Schatten. Sarah Dreher

Stoner McTavish - Schatten - Sarah Dreher


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Stoner. »Wir kommen dort an und stellen fest, dass sie tatsächlich nur in Urlaub ist. Vielleicht ist Nancy nur hysterisch. Allerdings kam sie mir nicht so vor, als neige sie besonders zur Hysterie, und dir?«

      »Ich kenn sie doch gar nicht«, sagte Gwen.

      »Ach ja, richtig. Sie kam mir sehr jung und auch sehr sensibel vor, und schutzbedürftig.« Sie überlegte einen Moment. »Gwen, meinst du, ich kann Menschen gut einschätzen?«

      »Besser als ich.«

      Stoner sah sie an. »Bloß weil du einen Mann geheiratet hast, der nur dein Geld wollte, heißt das noch lange nicht, dass du keine Menschenkenntnis hast. Jede macht mal einen Fehler.«

      »Ich nicht. Ich fabriziere nur gigantische Irrtümer.«

      »Gut«, sagte Stoner, »vielleicht wirst du’s so los. Einmal ein gigantischer Irrtum und ab dann ist’s ein gemütlicher Spaziergang.«

      »Da waren drei Restaurants in der Stadt, durch die wir gerade gefahren sind«, sagte Gwen sehnsüchtig.

      »Tut mir leid. Wir halten in der nächsten, versprochen.« Sie trat das Gaspedal fester durch. »Die Frage ist doch, wenn Claire irgendetwas zugestoßen ist, warum? Wenn es ein Unfall war – sie ist in den Ozean gefallen oder so was –, warum vertuschen? Sie ist erst zwei Monate in Schattenhain. Wie viele Feinde kannst du dir in zwei Monaten machen?«

      »Hunderte«, warf Gwen ein, »wenn du sie verhungern lässt.«

      »Also geht vielleicht irgendetwas Ungesetzliches in Schattenhain vor sich, und Claire hat es bemerkt, und sie mussten sie zum Schweigen bringen.«

      Gwen warf sich zu Stoner rüber und biss ihr ins Handgelenk.

      »Um Gottes willen, Gwen. Willst du, dass ich gegen einen Baum fahre?«

      »Hunger!«, schrie Gwen.

      Stoner brachte den Wagen zurück in die Spur. »Deshalb sollten wir, wenn wir in Castleton sind, auf verdächtige Vorgänge achten.«

      »Jetzt weiß ich, was das hier wird«, jammerte Gwen, als etwas, das ›Die Kochmütze‹ hieß, ausgestattet mit Sitzbänken, Tischchen und servierbereiten Kellnerinnen, vorbeirauschte. »Die Suche nach Erleuchtung. Wir werden so lange weiterfahren, ohne Essen, ohne Schlaf, bis wir Halluzinationen bekommen.«

      »Wieso hast du bloß schon wieder Hunger?«, fragte Stoner. »Wir haben doch eben erst gefrühstückt.«

      »Wir haben um 7 : 45, Digitalzeit, gefrühstückt. Jetzt ist es 13 : 30.«

      »Oha.« Sie gewahrte ein kleines Betongebäude, etwas weiter vorne. Ein Neon-Schriftzug flackerte hinter der Fensterscheibe wie ein sterbendes Glühwürmchen. Sie stemmte sich in die Bremsen, lenkte auf den Parkplatz und schaute sich um. »Ich weiß nicht, es wirkt ein bisschen ärmlich.«

      »Mich würd’s nicht mal stören, wenn es dekadent wäre«, sagte Gwen und sprang aus dem Wagen. »Hauptsache, sie haben was zu essen.«

      Stoner betrachtete Gwen, die voranging, und seufzte.

      Ich bin verliebt.

      ***

      »Verloren«, sagte Gwen.

      Stoner zeigte auf eine verfallene Scheune am Straßenrand. »Das erinnere ich. Hier sind wir vorhin vorbeigekommen.«

      »Soso. Da waren wir also auch schon verloren.«

      Gwen hielt unter einem rostigen Pfeiler, der eine Straßengabelung markierte. Rankender Efeu verdeckte das Schild am oberen Ende des Pfeilers. »Kannst du lesen, was da steht?«

      Stoner stieg aus und blickte nach oben. »Da steht Castleton.«

      »Welche Richtung?«

      »Rechts lang.«

      »Welche Richtung sind wir letztes Mal gefahren?«

      »Links, glaube ich.« Sie stieg wieder ins Auto. »Soll ich fahren?«

      Gwen ließ den Motor an. »Stoner, mein Engel, da müsste erst der Tag kommen, an dem es in der Hölle schneit, bevor ich dich noch mal fahren lasse, besonders kurz vorm Essen.«

      Mein Engel. Sie hat mich ›mein Engel‹ genannt.

      »Ich schätze«, fuhr Gwen fort, »du bist die einzige Überlebende der Donnertruppe.«

      »Was ist das?«

      »Eine Gruppe Pioniere, die so besessen davon waren, die Goldfelder zu erreichen, dass sie versucht haben, die Wüsten im Winter zu durchqueren. Sie gerieten in einen Blizzard und verspeisten sich gegenseitig.«

      »Na so was«, sagte Stoner. »Ich hätte gedacht, sie seien zu schwach für Sex gewesen!«

      »Stoner McTavish! Das ist das Verdorbenste, was ich dich jemals hab sagen hören.«

      »Wart’s ab«, sagte Stoner. »Ich kann sogar richtig derb werden.«

      Sie rasten an überwinternden Feldern und Knäueln aus Brombeergestrüpp vorbei und ließen Farmhäuser in einer ganzen Palette verwaschen weißer Anstriche hinter sich. Kraftloses Elend. Scheunen mit zersplitterten Stützbalken, Fenster, die den Himmel reflektierten oder nach innen geöffnet zu schwarzen Löchern geworden waren.

      »So was wie das hier würdest du im Süden niemals zu sehen bekommen«, sagte Gwen. »Es würde sofort dem Erdboden gleichgemacht werden. Ich weiß von Leuten, die fuhren übers Wochenende weg, und als sie zurückkamen, war ihr Haus kurzerhand verschwunden.«

      »Keine schlechte Idee.« Stoner schaute sich besorgt um. »Meinst du, Castleton ist auch so?«

      »Ich bezweifle es. Das hier ist doch nur ein Trick, um Kunstmalerinnen anzulocken.«

      »Aber wo sind dann die Künstlerinnen.« Sie sackte tiefer in den Beifahrersitz. »Gwen, ich fürchte, ich bin etwas nervös.«

      »Nervös! Du bist schon die ganze Zeit das absolute Nervenbündel. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist, dass du durch die Decke gehst.«

      »Es ist nur … Ich hab ein ungutes Gefühl bei dieser Gegend.«

      »Die Menschen, die hier leben, haben vermutlich ebenfalls dieses ungute Gefühl. Falls hier welche leben.« Sie sah Stoner an. »Kriegst du Alpträume davon?«

      »Kann sein.«

      »Alpträume können dir nichts anhaben, Stoner.«

      »Sie können, wenn sie Vorahnungen sind.« Der Wagen überquerte eine schmale Brücke und erklomm einen Bergkamm. »Oh Mann, wir haben Castleton gefunden.«

      Das Meer lag vor ihnen. Träge wie Blei. Schäfchenwolken schwebten über dem Wasser. Der Horizont war unsichtbar in Nebel getaucht. Richtung Osten war das Land eben, zog sich in bräunlichen Feldern an einem kleinen, schlammfarbenen Bach entlang. Das Städtchen Castleton kauerte sich ans flache Meeresufer. Vier rostverkrustete Fischerboote, um eine Boje herum vertäut, schaukelten verlassen auf und ab.

      Am südlichen Ende der Stadt stieg das Land schroff an, formte sich zu einer felsigen, bewaldeten Halbinsel, die sich wie der Kamm eines arroganten Hahnes dem Ozean entgegenstreckte. Ein paar große, zerfallende Häuser klebten an den Felsen entlang der Straße, die sich zu einem matschigen Weg verschlechterte, als sie den Waldrand erreichte. Wellen klatschten unbarmherzig an den Fuß der Klippen. Draußen über dem Meer bildete sich eine Nebelbank, bewegte sich auf die Küste zu, griff nach dem Land mit silbrig samtenen Fingern.

      »Gute Göttin«, hauchte Stoner.

      »Allerdings«, sagte Gwen. Sie schaute auf die Karte. »Das muss der Castle River sein. Castle Bluffs. Castle Point. Der Fluss zum Schloss, das Kliff zum Schloss und der Aussichtspunkt zum Schloss, alles da, fehlt uns eigentlich nur noch das Schloss selbst.« Sie setzte das Auto wieder in Gang. »Ich hoffe, du bist bereit. Shirley Jackson hätte es geliebt.«

      Nein, ich bin nicht bereit. Irgendwas ist falsch, irgendetwas stimmt nicht mit dieser Gegend. Und alles ist


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