Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo
Kleine nickt energisch und lächelt zufrieden.
Die Mutter kommt mit einem Buch aus der Bücherei. Es geht um einen Embryo im Bauch einer Frau, die ohne einen einzigen Blutfleck in zwei Teile zerschnitten worden ist. Es ist natürlich nur eine Zeichnung. Man sieht alles darinnen. Einige Bilder zeigen, wie das Kind herauskommt. Total unnatürlich und nicht zu fassen. Sie will es gar nicht sehen. Aber das muss sie. Blättert im Buch und fühlt sich elend. Jetzt weiß sie, wie Menschen zumute ist, die in einem Berg gefangen sind. Schlimmer. Sie hat einen Berg, der ihren Körper verlassen muss.
Wieder weiß die Mutter, was sie denkt, und erzählt, dass sie und die Großmutter leichte Geburten hatten und dass sie vermutlich auf die beiden kommen wird. Sie nickt verängstigt.
Ich bin ja da, wenn es passiert. Und die alte Hebamme auch, sagt die Mutter.
Dann sitzen sie eine Weile da und haben nichts mehr zu sagen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es kein Unglück ist, sondern ein Mensch, der uns wichtig ist, sagt endlich die Mutter mit blanken Augen.
Ihr geht auf, dass die Mutter noch nicht vor ihren Augen geweint hat. Sie senken den Kopf und weinen ein bisschen zusammen. Von Schluchzen kann nicht die Rede sein. Es ist eher ein Schnaufen, zum Beweis dafür, dass sie einander verstehen. Die Mutter bringt das Buch mit der halben Frau und dem Embryo im Bauch weg, damit es nicht nass wird. Es gehört doch der Bücherei und nicht ihnen.
Die alte Hebamme, die eigentlich schon in Rente ist, trägt eine große weiße Schürze und redet mit ruhiger Stimme, während sie hinter ihrer Brille die Augen zusammenkneift. Atmen!, sagt sie. Zwischen den Wehen erzählt sie von dem letzten Kind, das sie in diesem Zimmer geholt hat. Vor vielen, vielen Jahren.
Das ’s jetzt schon ’n erwachsener Mann. Das war das Kind von der armen Marie, die ist jetzt mit allem allein. Der selber saß zum Schreiben da draußen im Pavillon und durfte nicht gestört werden. Der war kein erwachsener Mann, der Kerl, egal, wie berühmt er war. Es ging nicht darum, dass er unbedingt schreiben musste, der konnte einfach kein Blut sehn! So sind die Männer oft, verstehst du. Ich kenn einen Bauern in Nordbygda, aber ich sag keinen Namen, der kann seine eigenen Lämmer nicht holen. Männer … jagen und schlachten, Krieg führen und morden, aber kein Blut sehn können, wenn’s ernst wird. Das verstehe, wer will! Sie hat furchtbar kämpfen müssen, die Marie, aber wir konnten das Kind doch rausholen, sie und ich zusammen. Das war eine liebe Frau! Ihm hat der Ruhm ja nicht gutgetan, das kann ich dir sagen. Dachte, er wär was anderes als andere. Das ist das Problem von diesen Burschen, die glauben, der Herrgott hätte sie erhöht. Aber dem Herrgott ist das alles egal, das kann ich dir sagen, mein Kind. Du und dein Kleines, ihr seid genauso viel wert wie der Dichter!
Sie denkt nicht darüber nach, was sie wert ist. Hat genug damit zu tun, in Stücke gerissen zu werden, in Fetzen, mit Gerippe und Muskeln und allem anderen. Zwischen den Wehen denkt sie, das hier sei schlimmer, als von einer Brücke zu springen. Sie hat nicht einmal Zeit, sich zu fürchten. Sie will es nur hinter sich bringen. Die ganze Zeit war klar, dass sie in ihrem eigenen Blut im Bett der Mutter sterben würde, während die Hebamme über die Schlafzimmermöbel des Dichters plappert, in denen die Entbindung leichter ging. Höhere Betten, aber natürlich nicht so modern.
Einmalig schöne Farbe ham die Möbel hier, sagt die Hebamme beifällig, als die Mutter saubere Laken bringt. Jetzt nicht einschlafen, das Kind muss satt werden, du musst mithelfen.
Nur mit dem Nachthemd bekleidet vor einem großen offenen Fenster. Der Himmel ist voller stechender Sterne. Die zielen auf sie. Unter ihr bewegen sich Menschen. Einige drohen mit den Fäusten und rufen etwas, das sie nicht hören will. Sie haben keine Gesichter. Dennoch kann sie verstehen. Die Verachtung dieser Menschen füllt alle Hohlräume und fängt an, sie von innen her zu zerfressen. Ihr das schweißnasse Nachthemd vom Leib zu reißen. An ihren Sehnen zu zerren. Einen Knochen nach dem anderen zu brechen. Ihre Hüften werden losgerissen. Die Kiefer. Steht sie trotzdem aufrecht? Nein, sie hängt. Hängt mit dem Kopf nach unten. Dann merkt sie, dass auch der Dichter dort hängt. Er ist immerhin bekleidet, seine Weste ist zugeknöpft. Aber er zappelt und will zu ihr. Das Nachthemd fällt über sie, über Waden und Schenkel. Über den Bauch. Dann ist sie nackt. In Eis gehüllt. Plötzlich spricht der Dichter, wie sie ihn im Radio gehört hat, mit schnarrender Stimme, gebieterisch.
Sei ganz ruhig und denk deine Gedanken fertig, dann geht es vorbei, sagt er. Sie haben gut reden, möchte sie antworten. Aber das schafft sie nicht. Schmerz hat seinen eigenen Klang. Aber der Dichter lässt sich nicht beirren. Er redet weiter.
Sie glauben, sie hätten dich, aber du musst ihnen zeigen, dass sie sich irren.
Die Frau des Dichters
Der Ort will den hundertsten Geburtstag des großen Dichters feiern. Dass er im Krieg auf der falschen Seite gelandet ist, wird nicht so eng gesehen. Dass er sogar einen Nachruf auf den Führer verfasst hat, versucht man zu verschweigen. Aber natürlich erwähnen einige es eben doch. So ist es ja immer. Immer gibt es welche, die Dinge tun, nur um Unfrieden und Diskussionen hervorzurufen. Aber ausgerechnet jetzt! Jetzt, wo sie feiern und froh sein wollen!
Der Bezirksrat, oder wer auch immer, hat die noch lebende Frau des Dichters eingeladen, um mit ihnen zu feiern. Und dann sollen alle sich gefälligst anständig benehmen. Man soll nicht schlecht über die Toten sprechen und sie nicht kleiner machen, als sie sind. Wir reden hier trotz allem über einen Dichter von Weltgeltung! Einen, der das Dorf im wahrsten Sinne des Wortes auf die Weltkarte gesetzt hat. Soll man sich da mit übler Nachrede und Schikanen abgeben? Bei einem, der als Kind in einem kleinen Dorf gewohnt hat und nach vielen Jahren mit seiner Frau zurückkehrte, um den Boden zu bestellen. Mit eigenen Händen auf eigenem Hof. Steht das stattliche Haus nicht noch immer da? Es ist zwar heruntergekommen und müsste neu gestrichen werden, aber es wohnen ja Leute darin. Und es ist das Haus eines Mannes, der den Nobelpreis bekommen hat. Eine Ehre, die nur verdienten Ausländern zuteilwird.
So reden und denken sie, wenn sie zusammenstehen und das Beste für den Ort wollen.
Die Großmutter holt zwei Bücher vom Dachboden und legt sie zur Feier des Tages aufs Büfett in der guten Stube. Der Onkel schnaubt verächtlich, lässt sie aber liegen.
Sie leiht sie aus und liest sie noch einmal. »Pan« und »Victoria« heißen sie. Ein Wort, das immer wieder in ihrem Kopf auftaucht, wenn sie über den Müllerssohn und Victoria liest.
Wunderbar.
Sie kann es nicht laut sagen, wenn andere es hören könnten. Aber es denken, das kann sie.
Sie war so furchtbar kindlich, als sie diese Bücher zum ersten Mal mit der Taschenlampe auf dem fensterlosen Dachboden gelesen hat. Als die Batterie leer war, schmuggelte sie die Bücher in ihr Bett. Das war, ehe sie ins Dorf gezogen sind, als sie nur in den Ferien bei der Großmutter war.
Jetzt ist sie erwachsen. Fast alt. Sie ist mit einem kleinen Jungen im Bauch nach Schweden gewandert. Bald wird sie ihn bei der Mutter zurücklassen, weil sie aufs Gymnasium geht. Sie muss etwas werden und sich selbst versorgen können.
Als Erste sieht die Mutter, wie die Frau den Hang herunterkommt. Sie stehen auf der Veranda und klopfen Teppiche aus. Eine stattliche Gestalt mit üppigem weißem Haar und einer Brosche am Revers. Die Mutter zieht ganz schnell die Teppiche hinter das Geländer und sagt, sie solle hinlaufen und die Frau zum Kaffee bitten. Dann stürzt sie ins Haus, um alles vorzubereiten. Und sie kann nur tun, was die Mutter ihr aufgetragen hat.
Die Frau des Dichters steht mit abgewandtem Gesicht unter einem Baum. Sie tritt langsam näher und fühlt sich schwerelos vor Schüchternheit. Zwei Schritte vor der Frau bleibt sie stehen. Die Fremde dreht sich zu ihr um und ein kleines Lächeln verwandelt ihr Gesicht in eine Sonne.
Wer bist du, Kind?, fragt sie mit leiser Stimme.
Sie antwortet, dass sie mit ihren Eltern im ersten Stock wohnt und dass die Mutter die gnädige Frau zum Kaffee einladen möchte.
Danke! Und wie heißt du?, fragt die Frau.
Als sie antwortet, hört sie, dass ihre Stimme kaum trägt.
Es ist nett von deiner Mutter, zum Kaffee zu