Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo

Schritt für Schritt - Herbjørg Wassmo


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an Frauen, die sie zu sich bestellt haben. In ihren Katalogen sehen die Frauen aus wie Engel, fügt sie hinzu, auch wenn sie weiß, dass sich das nach Prahlerei anhören kann.

      Ja, da ist es ja kein Wunder, dass die Frauen in meinem Nähkränzchen finden, dass du schöne Unterwäsche hast, sagt die Vermieterin und lächelt sie über die Fleischsuppe hinweg an. Sie hat graue Locken und schöne Augen. Ihr Mann ist auch nett, sagt aber nicht viel.

      Wie kann man um einen Zimmerschlüssel bitten, wenn man so freundliche Vermieter hat?

      Dennoch tut sie es eines Tages. Es hat noch nie einen Schlüssel für dieses Zimmer gegeben, ist die Antwort. Aber es spielt doch sicher keine Rolle, nachts schließen sie ja die Haustür ab. Sie hat doch einen Haustürschlüssel bekommen, nicht wahr? Das hat sie. Im Grunde ist ja auch alles recht und billig, denn die Vermieter schließen ihre Zimmertüren ja auch nicht ab. Und der Vater ist nicht da.

      Sie hat ihr Notizbuch immer bei sich. Sie kann sich ja nicht mehr einbilden, es sei unter ihren Unterhosen gut aufgehoben. Aber das ist egal, ihre Schultasche ist voll schwerer Bücher, was macht ein kleines Notizbuch da für einen Unterschied?

      Es ist nicht möglich, ihr eigenes Leben zu zeichnen, auch wenn sie den Vater nicht sehen muss. Sie fühlt sich wohl in der Schule, ist aber eine Fremde. Ein Landei. Weiß nicht, was modern ist. In der kleinen Stadt ist es wichtig, modern zu sein. Die Kinder aus den großen Kaufmannsfamilien entscheiden darüber. Glaubt sie.

      Der Herbstball rückt näher und sie bittet die Mutter, das weiße Konfirmationskleid zu kürzen und knallgelb zu färben. Sie probiert es in ihrem Zimmer an und findet es sehr schön.

      Als sie auf den Ball kommt und die anderen sieht, die Modernen, ist ihr klar, dass ihr Kleid einfach hoffnungslos ist. Die neue Freundin mustert sie skeptisch, ohne etwas zu sagen. Trotzdem tanzen einige mit ihr. Sogar aus der Parallelklasse.

      Ach, so sieht also dein Prinzessinnenkleid aus, sagt einer.

      Du hast so schöne Haare, sagt ein anderer.

      Diese Bemerkung rührt sie dermaßen, dass sie schlucken muss.

      Einer sagt, ihre Rede an die Lehrer sei hervorragend gewesen. Sie erinnert sich beschämt daran, wie sie steckenblieb und den Faden verlor, weil sie einen Abschnitt in ihrem Manuskript übersprungen hatte. Sie begreift noch immer nicht, wie sie sich dazu bereit erklären konnte, diese Rede zu halten. Überhaupt begreift sie nicht, warum sie immer wieder tut, was sie nicht kann oder wagt. Das ist doch irgendwie krank!

      Sie geht, lange bevor der Ball zu Ende ist.

      Am Montag danach nimmt sie alles Essensgeld für den ganzen Monat und kauft sich einen orangefarbenen Mohairrock und einen kupferfarbenen Gürtel. Aber es ist natürlich zu spät. So schmal sie ihre Taille auch zu machen versucht, der Ball ist vorüber. Sie isst belegte Brote, während das bleischwere Ungeziefer in ihrem Kopf herumnagt. Versucht, es an den Kieswegen, im Birkengestrüpp und an den Grashängen auszulüften, die zu den Felskuppen hochführen. Aber alles wird zu einem widerlichen Sirup aus Broten, Rotz und verschwommenen Bildern von Inseln, Booten und grauem Meer.

      Alleinsein

      Sie wurde geboren, als Norwegen von den Deutschen besetzt war, und müsste also vorbereitet sein. Aber die deutschen Beugungen sind böhmische Dörfer. In der deutschen Sprache wird einfach alles gebeugt. Wo sie am Krieg schuld waren, sollten sie wenigstens aufhören, alles so kompliziert zu machen, denkt sie. Man könnte glatt glauben, alle normalen Deutschen blieben wegen ihrer furchtbar schwierigen Sprache Analphabeten. Aber nein. Es ist offenbar ein belesenes und aufgeklärtes Volk. Die Freundin behauptet, Deutsch sei wie Mathematik, einfach und logisch und leicht in den Griff zu bekommen. Sie kann nicht widersprechen, da sie ja auch in Mathematik nicht gut ist.

      Du hast doch diese schrecklichen Norwegischaufsätze geschafft, sagt die Freundin.

      Das stimmt. Aber ab und zu kommt sie sich richtig zurückgeblieben vor. Was sie vor dem Realschulexamen gebüffelt hat, ist verschwunden. Spurlos. Ihr Kopf ist ein grobmaschiges Sieb. Außerdem macht es ihr Sorgen, dass sie durch und durch unmodern ist, ohne Übung darin, sich in einer modernen Gesellschaft zu bewegen. Wenn es regnet, zieht sie Gummistiefel an. Das hat sie immer so gemacht. Die Freundin sagt, sie sehe aus wie eine Fischersfrau oder eine Lappin. Natürlich hat sie recht. Also kauft sie sich für ihr Essensgeld Lederstiefel und ein Twinset. Das haben alle. Es ist aus reiner Wolle und kratzt, und es hilft ihr nicht weiter bei dem Versuch, die Mathematik zu durchschauen.

      In gewisser Weise gibt es ihr ein Gefühl der Geborgenheit, so nah beim Friedhof zu wohnen. Manchmal gehen andere hin und zünden auf den Gräbern Lichter an. Eines Abends nimmt sie ein Licht mit und tut so, als hätte sie Bekannte, die dort liegen. Sie sucht sich ein Grab mit verschneitem Grabstein und unleserlicher Inschrift aus. Kniet nieder und weint ein wenig. Friert dann auch im Gesicht. Am Ende ist ihr so kalt, dass ihr klar wird, dass es immer schon Menschen gegeben hat, denen es schlechter ging als ihr. Sie darf immerhin zur Schule gehen. Das dürfen nicht alle, die dermaßen in Schande geraten sind wie sie. Es ist wirklich ein Trost, den Friedhof aufsuchen zu können. Der Weg ist kurz. Nicht zuletzt, wenn sie danach wieder in ihr Zimmer will. Dort ist es warm, auch wenn der Wind die Vorhänge bläht wie Segel, wenn er weht.

      Die Vermieterin hat sie gebeten, den Heizkörper abzudrehen, wenn sie in die Schule geht. Zuerst gibt sie vor, das zu vergessen, aber dann entdeckt sie, dass die Vermieterin es auf jeden Fall erledigt. Es ist wie die Sache mit dem Schlüssel – wenn man nichts ändern kann, gewöhnt man sich lieber gleich daran. Es wird ja ziemlich schnell warm, wenn sie den Heizkörper voll aufdreht.

      Samstags nimmt sie nach der Schule zumeist die Fähre über den Fjord, um ihren kleinen Sohn zu besuchen. Bei jedem Wetter. Sie hat Angst, dass er sie vielleicht nicht wiedererkennt. Aber jedes Mal lacht er und streckt die Arme nach ihr aus. Ein glühender kleiner Stein mit dunklen Locken. Wenn sie nicht bei ihm ist, ist er ein Teil der Einsamkeit, aber auch ein Trost.

      Die Fährfahrt ist Strafe und Medizin zugleich. Vor allem die Rückfahrt am Sonntagabend. Das Wetter wird von Samstag auf Sonntag selten besser. Eher ist das Gegenteil der Fall. Schon im Hafen wird ihr schlecht. Aber man gewöhnt sich an fast alles, und sie muss zurück.

      Montags reden die anderen in der Klasse darüber, was sie am Wochenende gemacht haben. Über die Feste. Sie hört zu. Es ist keine schlechte Eigenschaft, zuhören zu können, denkt sie.

      Vor dem Weihnachtsexamen zündet sie abends auf dem Friedhof ein Licht an, geht danach zurück in ihr Zimmer und arbeitet nachts weiter. Dann gehört das Haus nur ihr. Die Vermieter sind nie besonders laut, und nachts ist alles still. Ihre Arbeitslampe ist gut. Aber ihr Gehirn scheint mit Tran oder einem anderen Fett verschmiert zu sein. Alles rutscht wieder heraus.

      Sie hat angefangen zu zeichnen, so wie früher. Hat im Buchladen Geld für richtiges Zeichenpapier ausgegeben. Wasserfarben und Buntstifte hatte sie immer schon. Eigentlich hat sie keine Zeit für diese Dinge, denn sie muss sich auf die Schule konzentrieren. Man kann sagen, dass Konzentration jetzt das Wichtigste im Leben ist. Dennoch sitzt sie abends da und hört das Kratzen auf dem Papier.

      Sie zeichnet das, woran sie sich vom Friedhof und von den Stränden der Insel, wo sie aufgewachsen ist, erinnert. Die alten Bäume im Pfarrgarten. Eines Abends tauchen die Umrisse eines Tores und eines Zaunes auf, von denen sie nicht weiß, wo sie sie gesehen hat. Sie füllt den Rest von Landschaft und Zaun aus. Das Gestrüpp, das sie umgibt. Sie begibt sich gewissermaßen hinein und bleibt lange sitzen und sieht es an, als es fertig ist. Aus der Zeichnung kommen kleine Geräusche. Vogelzwitschern. Fahrradreifen im Kies. Sie hört, wie ein Boot auf den Strand gezogen wird, ohne dass sie das Boot gezeichnet hat.

      Eines Tages zeichnet sie ihr Zimmer mit Fensterkreuz und leerer Blumenvase auf dem Tisch. Es ist nicht gut genug, aber immerhin ein Trost in der Melancholie. Dieses Wort gefällt ihr. Melancholie. Sie hat es in irgendeinem Roman gelesen, kann sich aber nicht erinnern, in welchem. Ein anderes Wort ist Tristesse. Das klingt französisch. Alles, was französisch ist, ist für sie weich und elegant zugleich. Sogar ein Wort mit drei s und zwei e.

      Sie versucht Menschen zu zeichnen, aber dabei kommen immer wieder schöne Frauen heraus, die Elizabeth Taylor


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