Schritt für Schritt. Herbjørg Wassmo

Schritt für Schritt - Herbjørg Wassmo


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sagt die Frau des Dichters und lächelt wieder.

      Ich bring Ihnen den Kaffee, sagt sie eifrig und rennt los, ohne die Antwort abzuwarten.

      Als sie mit dem Kaffee und den frisch gebackenen Hefewecken der Mutter herauskommt, sitzt die Frau auf der Bank und schaut auf die Landschaft hinaus. Sie putzt sich die Nase mit einem weißen Taschentuch und hat blanke Augen.

      Hier konnte man das Meer sehen, jetzt ist alles zugewachsen …, sagt sie leise, wie zu sich selbst. Aber sie nimmt das Tablett entgegen. Kaffee in der Thermoskanne, Tasse, Untertasse und Kuchenschüssel.

      Sie bleibt einfach mit hängenden Armen stehen, ohne zu wissen, wie sie sich verhalten soll. Die Frau des Dichters findet das sicher peinlich.

      Richte deiner Mutter meinen herzlichen Dank aus, ich stelle das Tablett auf die Treppe, wenn ich gehe, sagt sie und möchte sicher allein sein. Aber sie beugt sich vor und reicht ihr die Hand. Es ist eine Überraschung, die anzufassen. Sie hat eine Arbeitshand.

      Später, als die Frau des Dichters schon längst das Tablett auf die Treppe gestellt hat und wieder den Hang hochgegangen ist, denkt sie an das Gespräch, das möglich gewesen wäre. Sie läuft hinaus und setzt sich auf eine Bank in dem überwucherten Garten. Stellt sich vor, die sei noch warm, weil die Fremde dort gesessen hat. Dann stellt sie alle möglichen Fragen. Wie es war, als sie damals den Hof betrieben haben und sie mit ihren Kindern hier wohnte. Der Dichter selbst war natürlich im ganzen Land unterwegs und schrieb seine Bücher.

      Sie fragt, ob er ihr etwas darüber erzählt hat, was er schrieb, ehe es gedruckt wurde. Irgendwann hat sie das Gefühl, die Antworten der anderen zu hören, in ihrem eigenen Kopf. Die Stimme ist deutlich, genau wie in Wirklichkeit. Sie erzählt von Einsamkeit, ohne das direkt zu sagen. Nicht klagend, eher als ob sie aus einem Buch vorliest. Darüber, in den Augen der Leute anders zu sein, weil sie aus einem anderen Landesteil stammt. Darüber, mit einem Mann zu leben, aus dem niemand schlau wird. Die zu sein, die zwischen Dorf und Dichter steht und alle praktischen Probleme klären muss. Wie es ist, zurück an diesen Ort zu kommen, dieses Haus zu sehen, in dem sie gelebt und Kinder geboren hat, und den Hof, den sie meistens allein mit dem Gesinde bewirtschaften musste. Es ist wehmütig. Sie benutzt dieses Wort, wehmütig. Und wieder werden ihre Augen blank. Sie ist nicht traurig, die Wehmut ist schuld daran.

      Sie wird sich für immer an dieses schöne Wort erinnern. Wehmut. Aber sie wagt nicht zu fragen, wie es war, die Frau eines berühmten Mannes zu sein. Der dann Schande und Elend über die ganze Familie gebracht hat.

      Stattdessen vertraut sie sich an, erzählt, dass sie im selben Zimmer ein Kind geboren hat, mit derselben Hebamme wie die Frau des Dichters. Und die Frau des Dichters schlägt die Hände zusammen und seufzt, so dass ihr üppiger Busen sich mehrmals hebt und senkt.

      Und noch so jung, sagt sie. Aber du brauchst dich nicht zu schämen. Du bist doch kein Nazi. Nicht verzweifeln, sagt die Frau des Dichters und weiß sehr viel über die Nazis. Vieles, das sonst niemand weiß.

      Freimütig gesteht sie der Fremden, dass sie sich vor dem Gymnasium fürchtet, sich aber darauf freut, von zu Hause wegzukommen. Sie fragt ganz offen, ob sie ein schlechter Mensch ist, weil sie ihr Kind verlässt, wie der Dichter es ja auch immer wieder getan hat.

      Nicht doch, sagt die andere. Du bist alt genug, um zu wissen, dass solche Dinge dich nicht zu einem schlechten Menschen machen.

      Sie erzählt, dass sie vom Pastor ein Leumundszeugnis einholen musste, um sich an verschiedenen Gymnasien bewerben zu dürfen.

      Und wie ging das?

      Er hat geschrieben, mein Leumund sei tadellos und über meinen ethischen und moralischen Wandel sei nichts hinzuzufügen.

      Dem Pastor musst du unbedingt glauben, er hat sicher in seinem Amt alles Mögliche erlebt, sagt die Frau des Dichters. Es ist eine Erleichterung, dass sie genau das sagt, was sie selbst gedacht hat.

      Und dann bleiben sie einfach so sitzen, in tiefem Gespräch über alles, was sie weder der Mutter noch jemand anderem erzählen kann. Fast jeden Tag, den ganzen August über, bis sie dann zum Gymnasium fahren muss, sitzen sie so da.

      Damit niemand glaubt, sie verschwende ihre Zeit, hat sie immer ein Buch vor sich liegen. Wenn sie aus Versehen etwas laut sagt oder gestikuliert, können die anderen einfach glauben, sie versuche, den Lehrstoff auswendig zu lernen.

      Der Preis des Wissens

      Die unverheiratete Tante des Vaters passt auf den Jungen auf. Die Mutter und sie nehmen Bus und Fähre in die kleine Stadt, die nach Fisch riecht und über der mehr Möwen fliegen, als irgendwer glauben kann. Sie muss allein zum Büro des Rektors gehen. Aber das muss sie eben hinter sich bringen.

      Der Rektor ist ein großer Mann mit breiten Schultern, immer beugt er sich ein wenig vor, als habe er beschlossen, dass der Kopf vor dem Körper kommen muss. Erst geht er hinter einem Schreibtisch mit Papieren in den Händen immer hin und her. Er hat lange knochige Finger und sieht bedrohlich aus. Sie schwitzt. Am Ende setzt er sich und liest ihre Noten laut vor, als ob sie nicht wüsste, was da steht. Die schlechten prallen von den Wänden ab wie hässliche Echos aus dem Totenreich.

      Nuuun, nuuun, sagt er langsam und mustert sie bedrohlich. Es gibt hier Möglichkeiten, natürlich. In Norwegisch zum Beispiel. Nicht schlecht, nicht schlecht … Aber eine Mathematikerin wird wohl nicht aus dir. Was meinst du selbst? Fast hätte sie ihre Zunge verschluckt, als wäre das die einzige Möglichkeit, nichts sagen zu müssen.

      Was meinst du selbst, fragt er noch einmal und lächelt plötzlich, wie um sie zu schockieren.

      Ich sollte wohl eher auf Lesen und Schreiben setzen, murmelt sie atemlos.

      Vernünftig! Dann bist du an dieser Schule angenommen, sagt er fast wütend, während er von einem Ohr zum anderen lächelt.

      Sie hat Angst vor ihm, fühlt sich aber erst einmal sicher, dass sie einen Menschen mit Macht auf ihrer Seite hat.

      Es fängt so licht an. Leicht. Als ob sie sich selbst mit Pastellkreide in die Welt zeichnen könnte. Das Mädchen, das mit ihr befreundet sein will. Die vielen kleinen Freuden. Die alten Schuhe so blank putzen, dass sie ganz neu aussehen. Sich Schulbücher besorgen. In der duftenden Bäckerei ein halbes Brot kaufen. In das Klassenzimmer gehen, das nach Kreide, Staub und grüner Seife riecht. Sich an ihren Tisch setzen und wieder ein Teil von etwas sein. Mit den anderen in der Klasse über alles Mögliche reden.

      Vor allem aber hören, dass jemand lacht.

      Der Vater ist nicht da.

      Aber ihr Junge auch nicht.

      Schon als sie das erste Mal den Fjord überquert, nachdem sie bei den Eltern gewesen ist, nagt etwas an ihrem Gehirn. Es führt sich auf wie bleischwere Insekten. Sie hat da drinnen einen riesigen Schwarm. Der surrt. Sogar nachts. Vor allem nachts.

      Sie hat ein Zimmer gleich beim Friedhof. Zwei große Fenster und rot angestrichene Möbel. Klo und Waschbecken in einem Verschlag auf dem Gang, den sie mit den Vermietern teilt. Das Badezimmer ist im Keller, aber sie darf es benutzen, wenn sie vorher fragt. Sie darf nicht vergessen, die Zahnpastareste aus dem Waschbecken zu wischen, sonst grämt sich die Vermieterin.

      Die Vermieterin hat ein Ekzem. Sie redet darüber und kratzt sich. Ein Teil der Einsamkeit der Vermieterin scheint vom Ekzem herzurühren. Sie ist freundlich und lädt zum Essen ein. Dabei kommt heraus, dass sie ihr Zimmer ihrem Nähkränzchen zeigt, wenn sie nicht da ist, um zu beweisen, wie schön es da ist. Auch die Schubladen. Schöne Unterwäsche, sagt sie. Das hast du natürlich zu Hause so gelernt, sagt die Vermieterin.

      Sie verschluckt sich an der Suppe und schnappt nach Luft. Auf irgendeine Weise ist es ihre Schuld, dass die Frau in ihren Schubladen kramt. Dann muss sie erklären, was die anderen gesehen haben. Sie erklärt, dass die Mutter als Vertreterin für eine dänische Unterwäschefirma arbeitet. Die Vermieterin schlägt die Hände zusammen und fragt immer weiter, als wäre das eine Neuigkeit, die in der Zeitung gestanden hat.

      Die Mutter hat die Maße für selbstgenähte Unterwäsche genommen, sagt sie. Man findet alles, was man an Haken, Spitzen, Stäbchen und


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