1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig
im vertraulichen Termin zusichern, den Arbeitsfrieden im Rahmen ihrer Möglichkeiten umfassend zu schützen. Das bedeutete also: keine Streiks, keine Demonstrationen der Solidarität mit der russischen Regierung, keine Demonstrationen mehr für einen Krieg ohne Annexionen und Kontributionen! Eine herrliche Vorstellung!”
„Tatsächlich ist das eine wunderbare Vorstellung. Doch ganz so einfach wird uns die Übereinkunft mit den demokratischen Parteien nicht gemacht. Denn einen Verzicht auf spontane oder auch organisierte Demonstrationen für den Frieden wird kaum jemand aussprechen. In wessen Macht sollte es denn liegen, spontane Ausbrüche der Volksmeinung zu verhindern, falls zum Beispiel die bolschewistische Regierung in Moskau öffentlich erklärte, sie verzichte auf den Einfluss über fremde Völker, die einst unter der Knute der Zaren gestanden hätten, wie zum Beispiel der Polen und Finnen, der Balten und möglichst auch der Ukrainer? Scheidemann und Ebert sind da nach meiner Erfahrung zu Recht sehr vorsichtig. Sie wissen nur zu gut, dass die radikaleren Vertreter ihrer Partei, wie Herr Liebknecht oder auch Frau Luxemburg, die Volksstimmung durchaus erfolgreich anzuheizen vermögen.
Und was die christlichen Gewerkschaften betrifft, ist die Zentrumspartei noch weitaus mehr als die Sozialdemokratie darauf bedacht, die formale Unabhängigkeit von Partei und Gewerkschaftsbewegung zu wahren und nach außen zu tragen. Alles andere würden die bürgerlichen Gruppen im Zentrum niemals tolerieren. Also wird die Reichstagsfraktion unter Erzberger nicht offen für ein Stillhalten der christlichen Gewerkschaften eintreten. Als Erkenntnis bleibt da nur Folgendes: Gespräche hinter den Kulissen zwischen den einschlägigen Parteiführungen mit den Gewerkschaftsspitzen sind das einzig denkbare Instrument, um Einfluss auf die Stimmung in den Betrieben zu nehmen.“
Ich mache eine Pause, überlege kurz und finde den neuen Gedanken sehr wohl bestechend.
„Es gibt aber sicher ergänzend die Möglichkeit, mit den Parteien über eine öffentliche Positionierung zum Burgfrieden zu sprechen.“
Der Kronprinz stutzt, scheint meine Worte auszuwerten und fragt schließlich nach.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie da richtig verstanden habe, lieber Doktor Stresemann. Seitdem in Russland Revolution herrscht und seitdem die Reichstagsmehrheit letzten Juli die Friedensresolution beschlossen hat, steht der Burgfrieden doch eher nur noch auf dem Papier. Wie wollen sie denn da erreichen, dass der Geist des Augusts 1914 wieder belebt werden könnte?“
„Na, ich bin da etwas optimistischer als sie, kaiserliche Hoheit.
Wäre der vaterländische Geist von 1914 gänzlich verflogen, dann wäre das Jahr 1917 anders zu Ende gegangen! Ich möchte nur in Erinnerung rufen, dass Deutschland kaum Streiks erlebt hat, ganz anders als etwa Frankreich. Woran aber liegt das? Das liegt, da bin ich mir absolut sicher, an der hohen Tugend der Pflichterfüllung, die nicht nur beim deutschen Bürger, sondern auch beim deutschen Arbeiter gepflegt wird. Das liegt zusätzlich an der vaterländischen Gesinnung unserer Arbeiter, selbst dann, wenn sie die auch international eingestellte Sozialdemokratie wählen. Und das liegt drittens an der Treue zu Kaiser und Reich, wenn es ernst wird, und zwar bei allen drei demokratischen Parteien. – Kaiserliche Hoheit, es ist am Ende doch einzig und allein die Unabhängige Sozialdemokratie, die sich den Erfordernissen zum Schutz unseres Reiches vor seinen äußeren Feinden geradezu demonstrativ, ja mutwillig entzieht!“
„Wohl denn, lieber Doktor Stresemann, ihre Worte in Gottes Ohr! Anders als sie die innenpolitische Gesamtlage beurteilen, bin ich in einem Punkt näher bei Generalquartiermeister Ludendorff: Mit der Friedensresolution des Reichstags haben die Arbeiterparteien Zentrum und SPD einen wesentlichen Aspekt des Burgfriedens aufgekündigt, nämlich die Zustimmung zu Kriegszielen, die Deutschland in Europa nach diesem Kriege sicherer machen als vorher. Diese Grundhaltung aber müssen wir irgendwie rückgängig machen, um den nötigen inneren Frieden für die große Offensive im Westen und deren Ausstattung mit Waffen und Munition zu gewährleisten.“
„Genauso ist es, kaiserliche Hoheit. Das können wir schaffen, aber keinesfalls nur mit schönen Worten. Wir müssen die Demokraten nicht als unsere Gegner betrachten und behandeln, sondern als nationale Partner zur Gestaltung einer guten Zukunft. Wir müssen Zentrum und SPD gegenüber eines offen zum Ausdruck bringen: Ihr seid nicht mehr die Außenstehenden in dieser Nation, wie das noch zu den Zeiten des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes der Fall war! Ab heute seid ihr endgültig Teil der Willensbildung, der Gemeinschaft unseres Volkes, Teil der politischen Kräfte, deren Ziele die Reichsregierung zu erfüllen trachtet. Das ist der alles entscheidende Punkt, euer Hoheit. Und dafür gibt es nur einen Weg. Wir von den führenden Kreisen der Berliner Gesellschaft, das heißt eigentlich Seine Majestät der Kaiser und dessen Reichskanzler, müssen am besten für Zentrum und SPD jeweils ein lebenswichtiges, in die eigene Anhängerschaft überzeugend hineinwirkendes Zugeständnis machen. Und dann müssen wir sagen: Das gilt auch noch nach dem Krieg und wird nicht mehr zurückgedreht! Weder von den Herren Konservativen im Preußischen Abgeordnetenhaus noch von den Herren Exzellenzen Militärs in der Obersten Heeresleitung, und auch nicht von den Herren Stahlbaronen an der Ruhr.“
Ich bin bei meinem Vortag etwas laut geworden, so engagiert habe ich meine Überzeugung vorgetragen. Jetzt will ich mich wieder zurücknehmen und verschnaufe für einen Moment. Der Kronprinz lächelt. Er hat natürlich gemerkt, dass er mich jetzt in volle Fahrt gebracht hat. Das gefällt ihm augenscheinlich. Außerdem deutet sein verschmitztes Lächeln an, dass er glaubt, mich und meine weiteren Absichten durchschaut zu haben.
„Herr Doktor Stresemann, also haben sie schon eine sehr genaue Vorstellung davon, wie wir das machen sollten, die beiden Arbeiterparteien zu gewinnen, sie geradezu in die Gruppe der staatstragenden Parteien aufzunehmen. Meine Güte, wenn ich diese Zielsetzung meinem Vater oder Ludendorff oder Stinnes ausbreite, dann halten die mich für komplett verrückt geworden! Aber gut. Ich begreife, lieber Doktor Stresemann, dass sie für die Zukunft eine andere deutsche Gesellschaft wollen, und dass sie diese neue, modernere Gesellschaft für vereinbar erachten mit dem Kaisertum, mit den Tugenden des deutschen Beamten, der preußischen Armee und der streng lutherischprotestantischen Gottesfurcht.
Also bitte, damit ich mich nicht irrigen Vermutungen hingebe: Was wäre ihr Angebot an die Herren Erzberger und Ebert und Scheidemann, ja wenn sie der Kaiser wären, wenn sie so ganz alleine zu entscheiden hätten?“
Die Formulierung des Kronprinzen belustigt mich und dennoch ist sie verlockend. Sie steigert meine Einschätzung über dieses Treffen als höchst vertrauliche und konspirative Sitzung.
„Ich versetze mich in die Lage meines Gegenübers, kaiserliche Hoheit. Ich beginne bei Herrn Erzberger, weil die Konstellation der Interessen diesbezüglich einfacher ist. Herr Erzberger steht in seiner Partei und in der deutschen Öffentlichkeit für die Friedensresolution und für das gleiche Wahlrecht in Preußen. Also sollte er eines seiner beiden Ziele erreichen. Dann kann er sein Gesicht wahren und den von uns gewünschten Einfluss auf die eigene Anhängerschaft zur Geltung bringen.“
Kronprinz Wilhelm nickt und wirft kurz ein:
„Der Friede ohne Erwerbungen wird es ja nun nicht mehr sein.“
„Eben, also benötigen Erzberger und wir eine Übereinkunft zum Wahlrecht. Da müssen wir es schaffen, dass die Regierung Seiner Majestät in dem schon vorher von mir besagten Sinne eine Gesetzesänderung in den Reichstag einbringt, die für die nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus gilt und diese Wahlen binnen drei - nein besser binnen sechs - Monaten nach Friedensschluss zusagt. Denn wer von uns will heute schon wissen, wie viel Zeit die Rückführung unserer ruhmreichen Truppen aus Frankreich und Belgien in Anspruch nehmen wird?“
„Eine konkrete, eine kühne Aussage, Herr Doktor Stresemann. Mit dieser Zielsetzung gehe ich aber nicht alleine zu meinem älteren Herren und Graf Hertling! Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt, getragen von der Euphorie des gestrigen Kronrates und der Erwartungen in Bezug auf Russland, politisch vollkommen lebensmüde! Also müssen wir beide uns in aller Ruhe etwas einfallen lassen, wie wir überzeugen können.“
„Das geht in Ordnung kaiserliche Hoheit. Ich bin gerne bereit, sie zu dieser Unterredung zu begleiten. So eilig ist es damit ja noch nicht, denn die Belastungsprobe für die innere Einheit im Reich kommt ja erst, wenn der Friede