1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig
gleichzeitig mit der Friedensmeldung nach vorne zu gehen, verpuffte fast der gesamte gewünschte Effekt: Die Arbeiterschaft erhielte den Eindruck, Seine Majestät handelte erst dann, wenn er durch öffentliche Forderungen dazu gedrängt werde.“
„D`Accord!“
Der Kronprinz lässt die weiche französische Intonation mit sichtlichem Genuss förmlich von seiner Zunge perlen.
„Lieber Doktor Stresemann. Ich erfahre wohl binnen einer Woche, ob die Russen an den Verhandlungstisch in Brest zurückkehren und der Friede kurz bevorsteht. Dann suche ich sofort um ein Gespräch beim Kaiser nach.“
„Soweit abgemacht, kaiserliche Hoheit. Dann hätten wir die Linie zu Herrn Erzberger und zum Zentrum abgesteckt. Ich mache weiter mit den Sozialdemokraten, ihrer Mehrheit versteht sich, wenn es recht ist.“
Wilhelm fordert mich mit einer Handbewegung dazu auf.
„Herr Scheidemann ging in unsere Gespräche vom Frühjahr 1917 eigentlich mit drei Forderungen hinein. Zwei sind identisch mit den eben behandelten Zielen des Zentrums. Die dritte Forderung aber hat es in sich, ruft möglicherweise seine Exzellenz Ludendorff und vor allem die Herren Stinnes, Hugenberg und Co. auf den Plan. Es handelt sich dabei um die Errungenschaften des Gesetzes über den Vaterländischen Hilfsdienst. Die dort gebildeten Arbeiterausschüsse sind annähernd das, was die Sozialisten gerne als Betriebsausschüsse oder sogar Betriebsräte bezeichnen. Diese Belegschaftsvertretungen in den Großbetrieben sind ja eigentlich das, wovon die SPD träumt, um die deutsche Gesellschaft in Richtung von mehr Gerechtigkeit zwischen den Klassen, zwischen Arbeiterschaft und Großkapital, entwickeln zu können. Scheidemann und Ebert hoffen zugleich, dass ein Erfolg in dieser Frage den Radikalen um Liebknecht gehörig den Wind aus den Segeln nähme. Das wiederum könnte man nun schon als gemeinsames Ziel der Sozialdemokraten - aber jetzt muss man wohl genau Mehrheits-SPD sagen - dann weiter von ihnen und mir, der kaiserlichen Regierung, der OHL und Seiner Majestät selbst kennzeichnen.“
„So weit reicht die Analyse. Doch eine eher noch abstrakte Vorstellung von den zukünftigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entwickeln, mein lieber Doktor Stresemann, bedeutet in meinen Augen noch keineswegs eine Lösung für die praktische Frage, wie der Kompromiss denn nun wirklich aussehen soll. Sie haben ja auf die Ruhrbarone zu Recht verwiesen. Ich bring es in meinen Worten auf den Punkt: Hugenberg und Konsorten sind die Beibehaltung des Herr-im-Hause-Standpunktes in den Großbetrieben der Eisenindustrie und auf den Steinkohlezechen ebenso wichtig wie die Annexion von Longwy/Briey! Welchen Trick haben sie denn auf Lager, um diese aus meiner Sicht sogar unüberwindliche Hürde zwischen den Klassen zu nehmen?“
„Das ist die Kernfrage der Macht im Reich, euer Hoheit! Können die Herren von der Ruhr beides bekommen, den totalen Sieg und die Stutzung der Rechte der Arbeiterschaft? Dürfen die Herren von der Ruhr tatsächlich die entscheidende Machtinstanz sein, die anstelle von Kaiser und Reichskanzler darüber entscheidet, wie die Strategie des Reiches zur erfolgreichen Beendigung des weltweiten Völkerringens ausfällt?“ Ich blicke dem Kronprinzen fest, fast provokativ offen und lange in die Augen. Er hält dem stand und sinniert offenbar ernsthaft über meine Worte. Er kneift die Lippen leicht aufeinander und dokumentiert mir damit, wie sehr wir hier einen zentralen Aspekt unserer Friedensstrategie erreicht haben.
„In der Tat, lieber Doktor Stresemann, das ist eine kleine Revolution, eine weiße Revolution, eine Revolution von oben! Sie vertreten die These, dass wir ganz im Sinne Hegels – der Staat steht über den Dingen, den Interessen und Gruppen und hat nur das Gemeinwohl im Blick – die Partikularinteressen der Arbeiterschaft über die Einzelinteressen der Industrie stellen sollen, und das auch noch im Namen und mit ausdrücklicher Billigung der Krone.“
Wilhelm wechselt den Gesichtsausdruck von ernst und nachdenklich auf schalkhaft lächelnd.
„Nachher sind es nicht die Millionen Arbeiter, die Revolution machen in Deutschland, lieber Stresemann, sondern die Ruhrbarone, die Junker und die Militärs, die den Kaiser absetzen.“
Da muss ich lachen. Dann fange ich mich, sortiere sehr wohl den wahren Kern, der in der humoristisch vorgetragenen Befürchtung des Kronprinzen steckt, und sortiere meine Gedanken.
„Das wird nicht geschehen, euer Hoheit, da bin ich sehr sicher. Aber nicht nur aus dem einen Grund, dass der preußische Junker niemals gegen seinen Herrn und König rebellieren wird. Es gibt noch wichtige andere Gründe dafür: Die Millionen Arbeiter würden für den König und Kaiser auf die Straße gehen, würden in den Fabriken die Räder still stehen lassen und den Ruhrbaronen damit die Grenzen ihrer Macht aufzeigen.
Für mich ist etwas ganz anderes jedoch noch wichtiger für unser beider reines Gewissen, für die Überzeugungskraft unserer Initiative: Das Reich, die Regierung, der Kaiser würden nicht einfach die Verfolgung des einen Gruppeninteresses durch die Ziele einer anderen Gruppe ersetzen. Ganz im Geiste Hegels würde der Staat identifizieren, was seine eigenen, überlebenswichtigen Ziele und gesellschaftspolitischen Interessen sind. Und dann stellen wir fest, welche Übereinstimmung besteht zwischen den Voraussetzungen für die militärische Erkämpfung des Sieges hier, für die Sicherung des inneren Friedens nach dem Krieg und für lange Zeit dort. Und schließlich würden wir erkennen, welche breite Übereinstimmung besteht zwischen der Staatsräson hier und den Forderungen und dem nachvollziehbaren Selbstwertgefühl der Millionen zählenden Mehrheit unseres Volkes dort.
Kaiserliche Hoheit, wie 1806 steht Preußen wieder am Scheideweg. Wir haben die Wahl zwischen Reformen, die Deutschland erneut an die Spitze der Völker bringen werden, sowohl was den gesellschaftlichen Fortschritt als auch was seine Macht in Europa betrifft, oder aber zwischen dem Festhalten an der alten Macht, die vielleicht niemals so untergraben wird wie in Russland derzeit, die aber vermutlich allein zu schwach sein dürfte, um unsere nun wahrlich mächtigen Feinde Frankreich, England und Amerika zu bezwingen.“
„Jetzt sind sie in Rage, lieber Doktor Stresemann! Konservieren sie bitte ihren Schwung, ihre Leidenschaft, ihre Überzeugungskraft und – ja auch ihre Staatsräson für Preußen und das Reich. Genau so müssen wir in das Gespräch mit meinem Vater hinein gehen! Und wir müssen taktisch im Vorfeld alles daran setzen, dass da nicht wieder der gesamte Kronrat sitzt, der dann alles nur in Frage stellt und klein redet. Was wir brauchen, ist im besten Falle ein Gespräch unter acht Augen. Nun gut, mein Vater wird den Chef seines Zivilkabinetts Rudolf von Berg wohl hinzuziehen wollen, aber das schadet nichts, es wäre dann die ideale Konstellation.“
„Sehr gut haben sie das auf den Punkt gebracht, kaiserliche Hoheit. Sie werden mir zustimmen, dass ich diesbezüglich über keinerlei Einfluss auf Seine Majestät verfüge. Wären sie so freundlich, zur Anbahnung eines solchen, höchst vertraulichen Gespräches tätig zu werden?“
„Was bleibt mir anderes übrig, wenn wir Erfolg haben wollen, lieber Doktor Stresemann? – Ich möchte festhalten: Wir haben es nicht leicht mit all dem, was wir uns heute so vorgenommen haben, aber wir sind im Geschäft!“
Ich atme tief ein und aus. Die Erinnerung an mein erstes vollständig vertrauliches Gespräch mit Seiner Majestät dem Kronprinzen hinterlässt in mir ein wohliges Gefühl. Meine Schulter schmerzt. Sie ist vom langen Liegen verspannt. Ich wälze mich in meinem Krankenhausbett und öffne die Augen. Die hohe Zimmerdecke zeigt an ihrem umlaufenden Rand zu den Wänden einen feinen Putz. Das Muster wird wohl dem Stil des Empire entstammen, so schlicht und handwerklich präzise das klassische griechische Muster gestaltet ist. Kurz darauf schließe ich erneut die Augen und atme ein weiteres Mal tief und erleichtert aus.
Neujahr 1918 am Hofe des griechischen Königs Alexandros I.. Der seinem Vater erst 1917 auf Drängen der britischen Verbündeten auf den Thron gefolgte, erst 24-jährige Monarch gibt ein rauschendes Silvesterfest für seinen nach europäischen Maßstäben eher kleinen Hof, dafür aber mit einem wahrlich imposanten Feuerwerk für sämtliche Bewohner seiner Hauptstadt. Neben dem König und seiner deutschem Hochadel entstammenden Mutter Sophie steht auch Alexandros zwei Jahre jüngere Schwester Helene. Sie ist erst zwei Wochen vor Weihnachten von einem beinahe halbjährigen Aufenthalt am Hofe des Deutschen Kaisers in Berlin zurückgekehrt. Als die bunten Leuchtraketen den sternenklaren Athener Nachthimmel mit lautem Krachen erstrahlen lassen, schreckt Helene zusammen. Sie denkt unwillkürlich an