1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

1918 - Wilhelm und Wilson - Magnus Dellwig


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Friedensinitiative bis zum 3. Januar vorbereiten zu können.

      In dieser zuversichtlichen Stimmung greift der Präsident endlich zum Füllfederhalter und notiert in knappen Formulierungen:

      „Freier Welthandel,

      Freie Weltmeere,

      Selbstbestimmung für Polen,

      Vollständige Wiederherstellung der belgischen Souveränität (verlangt GB),

      Wiedergutmachung des Frankreich angetanen Unrechts mit Elsass-Lothringen (verlangt Frankreich, ist aber weich genug, um in Verhandlungen den Deutschen als Äußerstes eine Volksabstimmung zuzugestehen),

      Ungehinderte Entwicklungsmöglichkeiten für Russland - Räumung besetzter russischer Gebiete (Spielraum dazu, was nach Bildung neuer Staaten überhaupt noch Russland ist),

      Ethnisch gerechte Grenzen zwischen Italien und Österreich,

      bestmögliches Selbstbestimmungsrecht für die Völker der Donaumonarchie,

      Unabhängigkeit für das türkische Volk, aber Trennung der arabischen Völker vom Osmanischen Reich,

      Bildung eines weltweiten Bundes der Nationen zum Ausgleich ihrer Interessen,

      Großes Fragezeichen: Europäische Zollunion??? (verlangt Deutschland, fürchtet Frankreich, begrenzt vielleicht unseren Einfluss und den der Briten auf dem Kontinent!)“

      Woodrow Wilson legt den Füllfederhalter aus der Hand. Dann zählt er die Anzahl seiner Notizen durch und stellt fest, dass er acht bis neun grundlegende Punkte notiert hat. Nun gut, das sind zwar noch kein volles Dutzend, aber es ist ein guter Anfang. Wilson spürt zum ersten Mal seit Weihnachten, dass es möglich sein kann, eine Friedensinitiative zu starten, die seinen eigenen Kriterien, seinen Ansprüchen an sich selbst gerecht wird, nämlich flexibel zu sein und den wichtigen Nationen in Europa ein Eingehen auf Verhandlungen zu erlauben, ohne dass sie im Inneren sogleich als Verlierer dieses mörderischen Völkerringens bezeichnet werden können. Der Präsident denkt wieder einmal an die preußischen Junker, an die Militärs um Ludendorff und Hindenburg und um diesen Imperialisten Admiral Tirpitz mit seinem Flottenverein und den Alldeutschen im Rücken. Er weiß, dass diese Leute keinen Frieden nach seinen Vorstellungen wollen. Umso wichtiger wird es sein, ihnen und ihren Ebenbildern in Frankreichs Armeeführung das Argument aus der Hand zu schlagen, ihr Land werde zum Verlierer erklärt. Doch ebenso wichtig wird es sein, dass in England, Frankreich und Deutschland die friedenswilligen und verständigen Kräfte die Chance erkennen mögen, die von seinem Dutzend an Friedenspunkten ausgehen könnte.

      Für heute fühlt sich Wilson ausgelaugt. Seine kreativen Anstrengungen für den Frieden haben ihn ermüdet. Er schraubt den Füllfederhalter genüsslich zu, geht zum Fenster und öffnet es. Leises Vogelzwitschern dringt in das Oval Office. Die Geräusche beruhigen und entspannen den Präsidenten. Er setzt sich in seinen Schreibtischsessel, schließt die Augen und lehnt sich zurück. Für heute soll lediglich noch ein wenig Post kommen, doch die ist so völlig belanglos im Vergleich zu den zwei Seiten handschriftlicher Notizen, die inzwischen wieder in der Schublade seines Schreibtisches verschwunden sind.

      Der Jahreswechsel in der amerikanischen Hauptstadt findet etwas zurückhaltender, mit weniger ausladendem Feuerwerk statt als üblich. Es ist schließlich Amerikas erstes Jahr als Krieg führende Macht in Europa. An Silvester empfangen der Präsident und seine Frau im Weißen Haus Repräsentanten von Wohlfahrtsorganisationen. Dieses Mal sind die meisten mit Sammlungen vertreten, um die Familien von Kriegsteilnehmern zu unterstützen. Die im November auf mehrere Tausende angeschwollenen Gefallenenlisten drücken auf die Stimmung. Deshalb bemüht sich Woodrow Wilson in seiner kurzen Ansprache zum neuen Jahr, an der zwei Dutzend hochrangige Journalisten aus dem gesamten Land teilnehmen, welche Zuversicht er in das kommende Jahr lege. Mein Gott! Denkt er. Wie unglaublich wichtig wird 1918 für mich, für die ganze Welt werden! - Weiter wird er sagen: Die wachsende Kriegsmüdigkeit in Russland, Frankreich und Deutschland erhöhe die Aussichten auf einen Friedensschluss. Er selbst bereite dazu einen neuen, fundierten Vorschlag vor. Trotz zahlreicher Nachfragen nach den Inhalten wehrt der Präsident konsequent ab und lässt nur das heraus, was er sich zuvor vorgenommen hat. Zwei Stichworte gehen über seine Lippen: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und ein freier Welthandel werden für die zukünftige Weltordnung unverrückbare Grundlagen sein müssen. Dann beendet Wilson diesen letzten öffentlichen seiner Auftritte des Jahres 1917 und freut sich auf die Silvesterfeier mit seiner Frau, der Familie seiner Schwester und einem Freund von der juristischen Fakultät der Universität von Princeton, an der er vor seiner politischen Karriere als Professor für Politik tätig war, bevor die Hochschule ihn 1902 sogar zu ihrem Präsidenten ernannte.

      Oberst Edward Mandell House betritt um 9.30 Uhr des 2. Januar 1918 das Weiße Haus, um sich im Oval Office mit dem Präsidenten zu treffen. Seinen Ehrentitel Oberst, den ihm in Texas die Miliz verliehen hat, trägt er mit Stolz. Das gilt umso mehr, seitdem sich die Welt im Krieg befindet und der Titel seine militärische Kompetenz zu verbürgen scheint. Tatsächlich empfindet Edward House eine große Nähe zu allem Militärischen, wohl auch deshalb, weil ihm seine Lebenserfahrung Disziplin und Gehorsam als unverzichtbare Voraussetzungen zur Bewältigung von Notlagen wie zum Beispiel bei Einsätzen der Nationalgarde und der Milizen bei Naturkatastrophen eingeprägt hat. Die Militärs selbst dagegen erscheinen dem äußerst selbstbewussten Spross aus traditionsreichem texanischen Hause meist arrogant und herrisch. Und das gilt für ihn eigentlich über alle nationalen Unterschiede hinweg. Was Präsident Wilson an House am meisten schätzt, ist sein profundes Wissen in Politik, Geschichte und allen Angelegenheiten der Außenpolitik. Somit verwundert es Edward House wenig, dass der Präsident ihn heute, am Tag vor der ersten Kabinettssitzung des Jahres, sprechen möchte. Noch am 23. Dezember hatten beide telefoniert und Wilson erwähnte erst nur beiläufig seinen Austausch mit Lansing. House fasste sogleich nach und erfuhr, dass der Präsident eine Friedensinitiative vorbereitete. Das gefiel House sofort, weil er selbst vielleicht als einziger in Washington den Waffenstillstand zwischen Russland und Deutschland vom 15. Dezember als schlechtes Omen wertete. Der Zweckoptimismus der Briten war ihm beinahe widerlich suspekt. Natürlich hoffte auch er, dass die Menschewiki bald wieder die Macht in Moskau und Petrograd übernähmen und dann weiter kämpften. Aber für ebenso wahrscheinlich hielt er, dass Lenin sprichwörtlich lieber seine Großmutter an die deutsche Oberste Heeresleitung verkaufte, als in Russland auf die Macht zu verzichten. Deshalb hatte House dem Präsidenten am Tag vor Weihnachten beigepflichtet, jetzt sei der absolut richtige Zeitpunkt für Amerika den Frieden zu suchen. Bisher hätten die US-Boys nur unerheblich in die Kämpfe eingegriffen. Noch sei Amerika keine tief in den Krieg verstrickte Partei. Da sei es psychologisch günstig, heute oder zumindest sehr schnell, ohne weitere Belastungen im ohnehin schon schwierigen Verhältnis zum kaiserlichen Deutschland, nach vorne zu gehen.

      Woodrow Wilson empfängt Oberst House schon vor seinem Arbeitszimmer und bittet ihn in gelöster Stimmung herein. Er sagt ihm ohne Umschweife, schon um 11 Uhr Louis Brandeis dazu gebeten zu haben, um sich mit seinen wichtigsten Ratgebern in internationalen Angelegenheiten – und damit in Sachen des Weltfriedens – zu besprechen. Der Präsident bittet House, in der kleinen Sitzgruppe gegenüber dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er fährt fort. Über Weihnachten sei in ihm der von House, Lansing und anderen angestoßene Entschluss gereift, im Januar eine Friedensinitiative zu starten. Und es gelte keine Zeit zu verlieren. Deshalb solle bereits morgen ein Entwurf in die Kabinettssitzung eingebracht werden. Edward House hatte dieses Tempo nicht erwartet und prustet erst einmal aus. Auf Woodrow Wilsons Gesicht legt sich ein breites Grinsen.

      „Aber anders als du es sonst meist von mir gewohnt bist, sollen Louis und du nicht die ganze Arbeit machen. Lieber Eddy, du wirst es kaum glauben, aber ich habe wirklich schon einen ersten Entwurf angefertigt. Er liegt gut behütet in meinem Schreibtisch. Bis heute hat ihn nicht einmal meine Sekretärin zum Tippen zu sehen bekommen. Also wirst du dich mit meiner Klaue zufrieden geben müssen.“

      Oberst House schmunzelt gönnerhaft und winkt genüsslich ab.

      „Das ist nun wahrlich eine gute Nachricht, Woody. Ich muss also nicht die ganze Arbeit alleine machen. Das ist mir doch wohl deine grässliche Handschrift wert!“

      „Wir sollten es heute schaffen zu


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