1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig
einer rein privaten Reise zu erwecken. Besuche bei alten Freunden, Kollegen anderer Botschaften und eben auch Geschäftspartnern aus New York nannte er als erstes. Dann aber sagte er sinngemäß Folgendes: Die militärische wie die zivile Reichsleitung habe zur Zeit ein gesteigertes Interesse daran, mehr über Amerikas Kriegsvorbereitungen für das Jahr 1918 zu erfahren. Und noch wichtiger sei es für manche Herren in Berlin zu wissen, ob der Präsident wohl wie 1916 oder 1917 noch vor dem Kriegseintritt wieder für eine Friedensoffensive gut sei.
„Ich hakte bei Melroy nach und fragte, welche Herren Bernstorff wohl gemeint habe. Der Generalkonsul schwieg zunächst. Das lag vielleicht daran, dass er meine Erwartung in der von ihm verursachten Stille genoss. Endlich bemerkte er ohne die geringste Intonation in seiner Stimme: Für die Regierung Seiner Majestät, des Königs von England und des Kaisers von Indien, ist es ebenso interessant wie für den Präsidenten der Vereinigten Staaten, wenn, oder besser dass es zumindest einige maßgebliche Herren in Berlin gibt, die nicht allein auf den Zusammenbruch der Russen spekulieren und anschließend alles auf eine große Offensive im Westen setzen. Mister Brandeis, stellen sie sich nur vor, die Deutschen verlegen im kommenden Jahr 70 Divisionen, mehr als eine Million Mann von Russland nach Frankreich und greifen uns dort an. Wer weiß, wie das ausgeht? Britannien wird durchaus kriegsmüde. Da könnte ich mir einen Verhandlungsfrieden besser vorstellen als noch 1916.
Ich reagierte erschüttert. Melroy hielt ich entgegen, wir hätten keine Aussicht auf einen fairen Frieden mit dem Reich, wenn der Kaiser und Hindenburg aus einer Position der Stärke in die Verhandlungen einstiegen. Doch der Generalkonsul wehrte mit einer laschen Handbewegung ab. Sie glauben gar nicht, welche realistischen Gedanken sich die weltoffenen Herren in Berlin über das amerikanische Militärpotenzial machen. Ich wette, da geht etwas!“
Oberst House kann seine Spannung nicht mehr verbergen. Er rutscht etwas unruhig in seinem Sessel hin und her, dabei knetet er die Hände zur Selbstberuhigung ineinander.
„Jetzt aber raus mit der Sprache, Louis. Wer ist es, der in Berlin für gut zu gebrauchen ist? Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass Ludendorff zu den Weltbürgern dort zählt oder der Kaiser persönlich Graf Bernstorff auf die Reise nach New York geschickt hätte.“
Woodrow Wilsons Gesichtsausdruck verrät, dass er ähnliche Überlegungen anstellt, doch der Präsident zügelt seine Ungeduld und dokumentiert staatsmännische Gelassenheit, indem er nichts weiter unternimmt, als Eddy House das Feld zu überlassen und Brandeis auffordernd anzublicken. Dem Blick hält Louis Brandeis gerade einmal zwei Sekunden stand.
„Es waren nicht Hindenburg und Ludendorff, aber auch nicht Graf Hertling oder Kühlmann, die Bernstorff gespickt haben mit Ideen zu einer amerikanischen Initiative. Es war überhaupt kein Mitglied der Regierung. Aber dennoch sprach er mit zwei bedeutenden Männern, mit zwei Spitzenvertretern der Wirtschaft, die wiederum über die Rückendeckung von zwei noch bedeutenderen Männern aus der Politik verfügten.“
„Sicher? Oder eher Gerüchte, Hoffnung, Legendenbildung?“
Edward House Einwurf erscheint Brandeis so despektierlich, dass er jeden Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Quelle ausräumen möchte.
„Nun, zu aller erst: Lord Melroy ist ein höchst vertrauenswürdiger Mensch. Auf ihn lasse ich nichts kommen.“
Oberst House wirft entwaffnet die Oberarme nach vorn und gibt sich gestikulierend geschlagen.
„Melroy hat die gleiche hohe Meinung von Bernstorff wie ich von Melroy.
Bernstorff nun beruft sich auf ein Kamingespräch in der Grunewalder Villa des Präsidenten der AEG, Herrn Doktor Walther Rathenau, an dem nur noch der berühmte Hamburger Reeder Albert Ballin teilnahm. Ich wiederum kenne Ballin von einer seiner ausgiebigen USA-Reisen. 1911 begegneten wir uns in Boston, hielten seitdem Briefkontakt und schätzen uns sehr. Ballin ist als Reeder natürlich ein Verfechter der offenen Meere, des freien Handels. Sein Freund Rathenau ist einer der mächtigsten Vertreter der deutschen Exportindustrie, deren Frontbranchen schließlich Chemie und Elektro sind.“
„Na ja, das gibt mir bisher nicht mehr als die Erkenntnis, dass diese Herren im Gegensatz zu den Junkern und Stahlbaronen mit ihren Kriegszielen unseren Vorstellungen sehr viel näher liegen dürften. Doch das besagt wenig über ihren Einfluss auf die Machthaber.“
„Du hast völlig recht, lieber Woody. Für die politische Dimension der Bernstorffschen Informationen ist Folgendes entscheidend: Rathenau und Ballin sind Berater von Stresemann und mehr als das, sie sind seine Freunde. Der Volkswirt Doktor Gustav Stresemann ist seit Juli Fraktionsvorsitzender der Nationalliberalen im Reichstag. Die wiederum sind die größte Regierungspartei und die politische Heimat aller auch nur irgendwie bedeutenden Industriellen des Reiches. Sie üben auf die Regierung einen größeren Einfluss aus als die Konservativen, das Sammelbecken der Junker.“
Oberst House fällt Brandeis ins Wort mit all seinen Zweifeln an der Berechenbarkeit der Machtverhältnisse in Deutschland.
„Ich habe aber gehört, die Militärs hörten viel lieber auf die Imperialisten von der Ruhr mit Stinnes und Hugenberg – auch Nationalliberale – als auf die Modernisierer von der Weltmarktfraktion in derselben Partei. Also heißt die Devise: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Stresemann ist nicht Reichskanzler und zusätzlich auch noch Vorsitzender einer innerlich hochgradig gespaltenen, vor der Zerreissprobe stehenden Industrieund Unternehmerpartei.“
„Hör mir bitte erst einmal bis zum Ende zu, Eddy. Bestimmt ist Stresemann nicht die Macht, die dem Reichskanzler die Politik diktiert. Aber Stresemann ist – ja das ist inzwischen sicher – der wichtigste Berater des Kronprinzen aus dem parlamentarischen Raum.“
Woodrow Wilson scheint genug von all zu optimistischen Einschätzungen über den Einfluss der Modernisierer in der Reichshauptstadt zu haben.
„Ach herrje, der Kronprinz! Der ist voraussichtlich noch schlimmer als sein Vater, was die Forderungen nach Land betrifft. Wilhelm soll Ludendorff nach dem Munde reden. Wenn das so ist, dann nützen alle Einflüsse eines Stresemanns gar nichts!“
Der Ausruf des Präsidenten bringt Brandeis kurzzeitig aus dem Konzept. Wie gerne hätte er jetzt in aller Ruhe seinen Gedankengang ausgebreitet und vollendet. Doch es hilft ja nichts. Woodrow ist hier der Chef. Also gilt es, ihn und nur ihn zu überzeugen. „Lieber Woodrow, es ist ein wenig anders. Bernstorff hat Melroy berichtet, dass die drei Herren Kronprinz Wilhelm, Generalquartiermeister Ludendorff und Stresemann unter vier Augen und auch unter sechs Augen miteinander sprächen. Das sei in 1917 des Öfteren geschehen. Von seiner Erziehung, seinen Werten ist Wilhelm erst einmal näher beim preußischen Heer als bei der Exportindustrie. Aber dieser Doktor Stresemann hat es offenbar verstanden, beim Kronprinzen den Keim des Zweifels auszusäen: Wird es dem mächtigen Deutschen Reich tatsächlich gelingen, alle seine Feinde militärisch restlos zu besiegen? Das schlösse inzwischen sogar mit ein, Briten und Amerikaner komplett aus Frankreich hinauszubefördern. Tritt dieser eher unwahrscheinliche Fall nun aber nicht ein, braucht das Reich einen Ausweg – wir würden sagen die Exit-Strategie. Das Reich braucht selber einen Friedensplan, der Verhandlungen erlaubt und in diesen dem Reich die Aussicht auf die Durchsetzung substanzieller Punkte ermöglicht. Bernstorff meint jedenfalls, beim Kronprinzen sei ein Denkprozess angestoßen worden, der vom Ende der denkbaren Ereignisse aus den ersten Monaten des Jahres 1918 her beginnt. Und am Ende steht nur für Ludendorff, dass die Armeen der Entente vor den Alpen aufgerieben werden. Für Stresemann dagegen steht dort ein großer internationaler Friedenskongress. In dem wird Deutschland einige Ziele durchsetzen können, aber eben nur dann, wenn sie in die moderne Weltordnung des 20. Jahrhunderts auch wirklich hinein passen.“
„Den Namen Stresemann werde ich mir ab jetzt merken!“
Der Präsident lächelt, faltet seine Serviette zusammen und erhebt sich vom Tisch, um den Speisesalon zu verlassen.
„Meine Freunde, im Oval Office warten noch einige große Aufgaben auf uns.“
Woodrow Wilson, Edward House und Louis Brandeis bedingen sich für gut zwei Stunden störungsfreie Ruhe und Arbeitsmuße aus. Aus Oberst House Feder fließt in dieser Zeit nahezu der vollständige, endgültige und druckreife Text der Wilsonschen 14 Punkte. Dann