1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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auf dich, lieber Eddy. Den letzten Feinschliff sollen dann Bobbies Leute im State Department morgen anbringen. Aber für das Kabinett brauchen wir schon eine auch taktisch kluge Grundlage. Schließlich möchte ich, dass jede der wichtigen Mächte etwas für sich dabei herauslesen kann, um Verhandlungen zuzustimmen.“

      Der Präsident erhebt sich aus seinem Sessel und holt seine Aufzeichnungen der zurückliegenden Tage aus der Schreibtischschublade. Er bringt für sich seine Schreibunterlage mitsamt dem Füllfederhalter mit, für Oberst House einen Notizblock und einen Bleistift. Er legt die Schreibutensilien auf dem Coachtisch der Sitzgruppe ab. Dann schlendert er zur Türe und wünscht bei seiner Sekretärin für seinen Gast und sich eine Kanne Tee. Die wird kurz darauf ins Oval Office hinein getragen. Gestört werden möchte Wilson fortan nur noch beim Eintreffen von Mister Brandeis. Nachdem der Präsident ein wenig am noch brühend heißen Tee geschlürft hat, greift er zu seinen Notizen und stellt Oberst House die bisher schon zusammengetragenen Stichworte vor. Edward House erklärt seine Skepsis gegenüber dem letzten Punkt mit dem großen Fragezeichen: Sollen die Mächte der Entente auf Deutschlands Kriegsziel des Mitteleuropäischen Zollvereins eingehen? Es dürfte die Ablehnung der Franzosen hervorrufen und auch die Briten hätten einiges zu verlieren, nämlich ihren mit den Deutschen gleichberechtigten Zugang zu allen kontinentaleuropäischen Märkten. Wilson und House sind sich sogleich einig, dass sie diese Frage mit dem Wirtschaftsexperten und obersten Bundesrichter Brandeis besprechen werden, sobald dieser in knapp einer Stunde eintreffen wird. Anschließend konzentrieren sie sich auf die Regelung über Russland, das angesichts der aktuellen militärischen Lage und ebenso des ungeklärten Ausgangs der Revolution sicher eine Schlüsselstellung für die Akzeptanz der Friedensinitiative zukommen wird.

      „Wir sollten alles dafür unternehmen, dass in Russland die Demokratie siegt. Denn die Alternativen bestünden in einer Marionettenregierung der Deutschen oder aber in einem Revolutionsregime, dass es einfach nicht schaffen würde, die Ordnung wieder herzustellen.“

      „Dein Kreuzzug für die Demokratie in allen Ehren, lieber Woody. Und selbstverständlich hätte auch ich in Petrograd am liebsten die Sozialrevolutionäre unter Fürst Kerenski an der Macht, die dann korrekte Wahlen durchführen ließen. Doch in Wahrheit habe ich eine andere Sorge: Wenn es schlecht läuft in Russland, dann bekommen wir eine Revolutionsregierung unter Lenin und Kamenew, die zugleich außenpolitisch eine Marionettenregierung des deutschen Kaisers wird. Das wäre der Worst Case! Lass uns deshalb einen Vorschlag unterbreiten, der heute für Lenin ebenso akzeptabel ist wie für Kerenski. Ich meine einen Vorschlag, der sogar von der deutschen Regierung nicht so einfach zurückgewiesen werden kann.“

      „Vom Ziel sind wir da ganz nah beieinander, Eddy, aber was du da verlangst, ist doch wohl die Quadratur des Kreises! Ich bin auf deinen Formulierungsvorschlag gespannt.“

      „Ich meine, wir sollten Russland das Recht einräumen, seine innere Entwicklung selbst zu bestimmen. Das heißt dann implizit ohne Einmischung der Deutschen und ohne Einmischung der Entente. Und darüber hinaus benötigen wir eine Regelung für die äußeren Angelegenheiten, sprich auch für die russischen Grenzen.“

      „Damit bin ich sofort einverstanden. Polen wird unabhängig. Die deutschen Truppen räumen das von ihnen besetzte russische Gebiet. So weit sind unsere Vorstellungen bestimmt deckungsgleich. Aber was haben die Deutschen dann davon, mein Freund Eddy? Du denkst doch gerade bestimmt daran, warum Hindenburg und Ludendorff sich darauf einlassen sollten.“

      „Stimmt genau. Deine Wortwahl gefällt mir schon recht gut, Woody. Vielleicht liegt der Schlüssel in dem Begriff Russisches Gebiet. Wenn wir es kritisch betrachten, dann drängen nicht nur die Polen nach Unabhängigkeit, sondern noch viel mehr Völker, die unter der Knute der Zaren standen. Da sind die Finnen, die Balten, und die Deutschen drängen auch die Ukrainer, vielleicht sogar Georgien in die Freiheit. Das geht mir persönlich zwar viel zu weit, aber was Finnland und das Baltikum betrifft, ist eine Einigung mit den Deutschen vielleicht möglich, sofern wir diese Länder dem deutschen Einflussbereich zuordnen.“

      „Ich sage da nur: Das Selbstbestimmungsrecht werde ich nicht auf dem Altar der Machtpolitik opfern, lieber Eddy.“

      „Das musst du auch überhaupt nicht. Entweder wir fordern volle innere und äußere Autonomie. Dann aber kämpfen die Deutschen weiter. Oder wir konzentrieren uns auf die innere Freiheit der Völker. Dann halte ich vieles für möglich.“

      „Auf eines werde ich mich niemals einlassen, Eddy: Dass der Kaiser in Berlin über Europa herrscht und zwar von Belgien bis Polen und von Finnland bis in die Ukraine. Träte das ein, hätte die Demokratie den Krieg verloren und es bliebe in Europa nur noch eine wahre Weltmacht übrig.“

      Ja das stimmt, aber vielleicht auch wieder nicht ganz. So muss die innere Stimme von Edward House sich in diesem Moment regen, wenngleich seine gesprochenen Worte elaborierter ausfallen, in Rücksichtnahme auf seinen Gesprächspartner.

      „Sei nicht so kategorisch, Woody. Ich finde, dass du selbst den Schlüssel dafür entdeckt hast, wie eine sanfte deutsche Hegemonie und der Weltfrieden zusammenpassen können. Vor Weihnachten hast du mir gesagt, du möchtest einen Bund der Völker oder Nationen gründen, in dem alle Staaten Mitglieder sind, in dem es keine Vorrechte für die Großmächte gibt, in dem die Völker Streitigkeiten vor ein internationales Tribunal bringen können. Wenn wir nach dem Krieg wirklich einen solchen Völkerbund bekämen und in ihm Polen und das Baltikum Mitglieder würden, könnten wir eine sanfte Form der deutschen Vormacht doch wohl akzeptieren. Oder hast du etwa vor, die Realpolitik über Bord zu werfen?“

      Oberst House lakonisch vorgetragene und durchaus rhetorisch gemeinte Frage gefällt dem Präsidenten gar nicht. So sehr er seinen außenpolitischen Berater schätzt, so missfällt es ihm, zuweilen einen Anflug von Überheblichkeit heraus zu hören, wenn es um den Idealismus in Wilsons Friedenspolitik geht. Allerdings verabscheut Woodrow Wilson die althergebrachte europäische Kabinettspolitik so von Grund auf, dass er keinen Verhandlungsfrieden schließen möchte, der nicht zugleich eine Weiterentwicklung des Völkerrechts bedeutet. In dieser Absicht stimmen House und Wilson nicht nur überein, sondern deshalb haben Edward House und der Präsident bereits im letzten Herbst die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der europäischen Völker ersonnen. Dass Eddy ihn heute versucht mit einem gehörigen Schuss Realismus zu bremsen, ruft in Woodrow Wilson gemischte Gefühle hervor. Zwei Herzen schlagen in seiner Brust. Ein Mal verlangt die Moral ihr Recht und er möchte den kleinen Völkern volle Autonomie geben. Ein anderes Mal klopft der Verstand an und sagt dem Präsidenten in aller Nüchternheit, dass angesichts der dramatisch angewachsenen Machtpositionen des Deutschen Reiches in Osteuropa nur ein Kompromiss diesen fürchterlichen Krieg beenden kann. Oberst House ist für ihn der Mahner, dessen Realismus er sehr schätzt. Offenbar braucht er Edward House nötiger als ihm manches Mal lieb ist, um gedanklich die Insel der glückseligen Politik zu verlassen, die Amerika im Vergleich zu Europa tatsächlich sein dürfte. Der Präsident nimmt sich vor, in der bald beginnenden gemeinsamen Unterredung mit House und Brandeis seine Emotionen zu bändigen. Dieses Ziel vor Augen ist es Woodrow Wilson wichtig mit House noch kurz Österreich-Ungarn anzusprechen, weil das nun tatsächlich kein Thema für Louis Brandeis sein dürfte. Edward House hat auch dazu eine sehr dezidierte Meinung.

      „Nehmen wir doch wieder das Selbstbestimmungsrecht, lieber Woody. Die Völker der Donaumonarchie sind eigentlich zu klein, um jedes für sich einen lebensfähigen eigenen Staat zu gründen. Mir persönlich war die Idee des ermordeten Erzherzogs Franz Ferdinand sehr sympathisch, aus seinem Land einen Staatenbund zu entwickeln. Er sprach sogar einmal von den Vereinigten Staaten von Österreich-Ungarn. Das hört sich für uns Amerikaner doch wahrlich gut an! Wir verlangen innere Selbstbestimmung für die Völker der Monarchie. Die kann sich dann auf Außenpolitik, das Heer und die Wirtschaft beschränken. Außerdem schlage ich vor, dass wir für die übrigen Balkanvölker, die Serben und die Rumänen Unabhängigkeit fordern. Sonst landen sie ohnehin unter dem deutschen Schirm, wenn es weiter östlich eine funktionierende Großmacht Russland nicht mehr geben sollte.“

      „Du hast Recht, Eddy. Der Balkan fehlte noch auf meiner Liste, um das Dutzend der Friedenspunkte voll zu bekommen.“

      Es klopft an der Türe und Wilsons Sekretärin führt Mister Brandeis in das Oval Office herein. Der Präsident freut sich


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