1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig
Familie und alten Freunden in die Hauptstadt zurück. Zuvor feierte er in New York Silvester. Das war eine willkommene Gelegenheit, den britischen Generalkonsul zu treffen. Da New York die Drehscheibe für den Handel der USA in das kriegsgeplagte Vereinigte Königreich darstellte, schossen nirgends in Amerika die Gerüchte über die Lage in der alten Welt so ins Kraut wie dort. Vor dem Kriegseintritt der USA am 6. April 1917 hatten sich hier die Hiobsbotschaften gehäuft, dass der vom Deutschen Reich wieder aufgenommene uneingeschränkte U-Boot-Krieg die britische Wirtschaft nicht mehr nur schwer schädigen, sondern sie vielleicht tatsächlich in die Knie zwingen könnte. Brandeis hatte seinem Präsidenten im Februar 1917 von den Sorgen um die Briten berichtet. Bei ihnen beiden war die Überzeugung gewachsen, dass Frankreich ohne England sogleich zusammenbrechen werde. Für Woodrow Wilson gab diese Lageeinschätzung im März den letzten Ausschlag für den Kriegseintritt. Seitdem hielt er das Deutsche Reich endgültig für viel zu gefährlich, um ihm das Schicksal Europas ohne amerikanische Gegenwehr überlassen zu dürfen und zu wollen.
Nun aber, nach dem Jahreswechsel berichtet Brandeis aus New York, die britische Eisen- und Stahlindustrie greife wieder auf eine zufriedenstellende Erzversorgung zurück, viele weitere Rohstoffe stünden ebenso wieder ausreichend zur Verfügung und vor allem habe sich die Lebensmittelversorgung durch Importe weiter verbessert. Das alles reiche indes gerade einmal aus, um gemeinsam mit amerikanischen Lieferungen und unseren Truppenentsendungen den spürbaren Abfall der französischen Rüstungsproduktion zu kompensieren. Er mache sich ernste Sorgen, falls die Bolschewiki tatsächlich auf die Idee verfallen sollten, bald aus dem Krieg auszusteigen.
„Solche Überlegungen habe ich über Weihnachten auch angestellt, Louis. Ich bin zwar überzeugt davon, dass die Russen weiterkämpfen werden, doch am Ende sollten wir auf alles vorbereitet sein. Genau deshalb bin ich entschlossen eine neue Friedensinitiative zu starten.“
„Über die Russen hat mir der britische Generalkonsul in New York Lord Melroy auch erzählt. Er war bemerkenswert ehrlich. Seine Regierung, in dieser wiederum Außenminister Lord Balfour besonders vehement, vertrete die Auffassung, ihr Einfluss selbst auf Lenin sei groß genug, um einen Sonderfrieden zu verhindern. Melroy persönlich dagegen befürchtet, das sei vor allem Zweckoptimismus. Britische Kaufleute aus Russland berichteten, die Verhältnisse stürzten seit der Machtübernahme der Bolschewiki ins Chaos. Nichts sei mehr auszuschließen.“
Oberst House nutzt diese Bemerkung, um in das Gespräch einzusteigen.
„Deshalb, Louis, wollen wir einen Punkte-Plan, dem Russen und sogar Deutsche zustimmen können. Das gelingt uns aber nur, indem beide Seiten seine Auslegungsspielräume jeweils für sich erkennen und in Verhandlungen zu nutzen versuchen.“
„Da bin ich sofort bei euch. Sagt mir bitte zuerst, ob ihr schon erste Eckpunkte zusammen getragen habt. Dann will ich versuchen mir vorzustellen, ob auch London und Paris deinen Friedensplan unterstützen würden, Woody.“
Der Präsident überlässt es Edward House, alle bisher schon aufgelisteten Punkte in eine Ordnung zu bringen und ihrem neuen Gesprächspartner gründlich vorzustellen. Louis Brandeis lehnt dann die Aufnahme von Wilsons letztem Gedanken, dem europäischen Zollverein, kategorisch ab.
„Nicht dass ich den Frieden daran scheitern lassen würde, lieber Woody. Aber warum sollen wir so leichtfertig sein, das wichtigste Kriegsziel der modernen deutschen Wirtschaftselite um Leute wie Ballin oder Stresemann ihnen gleich kampflos vor die Füße zu legen wie eine reife Frucht? England wird davon seinen Ausschluss von wichtigen Märkten befürchten. Frankreich wird davon seine Unterordnung unter die deutsche Wirtschaftshegemonie erwarten. Also wollen beide diese sogenannte Mitteleuropäische Zollunion unbedingt verhindern. Und wenn wir uns darauf am Ende sogar einlassen sollten, dann bitte schön erst nach beinharten Verhandlungen, die unseren Verbündeten belegen, dass Amerika auf ihrer Seite steht! Falls wir der Zollunion also doch schweren Herzens zustimmen, dann müssen wir unser Prinzip der Open door für Britannien und die Vereinigten Staaten auf dem alten Kontinent durchsetzen. Alles andere müsste unwiderruflich die Macht des Reiches als europäische Weltmacht zementieren!“
„Überzeugt, Louis. Womöglich habe ich nur deshalb so viel Sympathie für diesen deutschen Plan, weil er für Europa so viel Gutes bewirken könnte, falls freie Märkte in allen Nationen Europas geschaffen würden. Es ist genau diese Idee von der Open door, die in China und selbst in Lateinamerika bereits ihre heilsame Wirkung entfaltet hat, bei der ich mich frage, ob sie nicht auch für Europa gelingen kann. Aber jetzt fürs Erste Schluss damit! Du musst uns jetzt bei zwei, drei anderen Fragen helfen. Denn wie wollen wir die Briten mit positiven Zielen gewinnen? Das weißt du vielleicht besser als jeder andere in den Staaten.“
„Der dickste Köder, den ihr Lloyd George und Churchill hinhalten könnt, ist die Erbmasse des Osmanischen Reiches. Zum einen konkurrieren die Briten mit den Deutschen um den Einfluss im Zweistromland. Zum anderen gelänge ihnen durch ein Stück vom Kuchen der arabischen Beute die geopolitische Stabilisierung ihres Empire auf hervorragende Weise: Durch eine Machtbasis zwischen Ägypten und Indien würden die Briten zur Vormacht des Nahen Ostens und lösten die Türken dort ab. Es gibt keine zweite Weltregion, auf die London so sein Auge geworfen hat. Ich könnte mir vorstellen, dass wir britischen Protektoraten in Arabien zustimmen, sofern das innere Selbstbestimmungsrecht der dortigen arabischen Völkerschaften nicht mit Füßen getreten wird - und selbstverständlich auch dort die Politik der freien Märkte mit der Open door gelte. Die Türken müssten sich dann auf ihre ethnische Basis in Kleinasien zurückziehen.“
„Das nehmen wir auf, Louis“, ruft Edward House voller Begeisterung aus.
„Die Politik der freien Märkte möchte ich indes auch in Woodys Dutzend-Punkte-Plan haben. Davon würden nämlich gleich mehrere wichtige Nationen profitieren: Wir natürlich, die Briten als Handelsmacht und dann selbstverständlich auch die Deutschen als Industrienation. So könnte der freie Welthandel mit geregelten Zugängen auch in die kolonialen Räume der Europäer für alle anderen, die weniger zu beherrschen haben als Briten und Franzosen, akzeptabel werden. Übrigens bin ich der Auffassung, dass koloniale Entschädigungen für die Deutschen der probate und der einzige Weg sein dürften, auf irgend einen Quadratmeter ihres Reiches zu verzichten. Sollten sie am Ende nach Volksabstimmungen auf Teile Elsass-Lothringens oder vielleicht sogar auch Posens verzichten müssen, dann geht das im Guten nur mit Hilfe einiger gehöriger kolonialer Kompensationen. Und Clemenceau wird sich darauf womöglich gar nicht so schweren Herzens einlassen.“
Nachdem Edward House gesprochen hat, ist es Brandeis ein Bedürfnis, die schon vor vielen Wochen vom Präsidenten genannte Idee eines Bundes der Völker und Nationen zu durchleuchten. Schließlich sind Amerikas Verbündete in diesem Krieg die größten Kolonialmächte der Erde. Sie werden es nicht hinnehmen, die Verfügungsgewalt über ihre ausgreifenden Territorien internationaler Kontrolle zu unterwerfen. Etwas anderes wäre es natürlich, falls es Woody gelänge, einen Völkerbund durchzusetzen, der den Krieg ächtete und die Großmächte dazu brächte, auf Krieg zu verzichten - oder zumindest so lange, bis ein internationales Schiedsgericht zu Konflikten zwischen den Staaten einen Vermittlungsvorschlag unterbreitet hätte. Als der oberste Bundesrichter Louis Brandeis voller Eifer seine Überlegungen über völkerrechtliche Ambitionen zum Besten gibt, ist der Präsident wie gefangen. Edward House spürt gleich wieder dieses enorme Herzblut, dass Woodrow Wilson in sein Konzept vom Bund der Nationen hineinlegt. So kommt es, dass die drei Herren in eine tief schürfende Betrachtung jenes Bundes eintreten, Edward House und selbst der Präsident sich dabei die eine oder andere Randbemerkung notieren und die zuweilen hitzige Diskussion selbst vom Lunch, den die Küche des Weißen Hauses in einem benachbarten Salon serviert, nicht unterbrochen, geschweige denn abgewürgt wird.
Recht beiläufig, während die Vorspeise serviert wird, erwähnt Louis Brandeis eine bemerkenswerte Begebenheit während seines Weihnachtsaufenthaltes bei Verwandten in New York. Der britische Generalkonsul in New York, Lord Melroy, habe berichtet, vor Weihnachten von Graf von Bernstorff besucht worden zu sein. Edward House merkt auf, denn er weiß: Bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Deutschen Reich am 3. Februar 1917 war Bernstorff Botschafter in Washington. Dann wurde er selbstverständlich ins Reich zurückgerufen. Was ist der Grund für seine Amerikareise gewesen? Danach fragt er sogleich Brandeis.