Unterm Fallbeil. Horst Bosetzky

Unterm Fallbeil - Horst Bosetzky


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erschien als erster Gast in der Großen Frankfurter Straße und hatte neben einem kleinen Geschenk, Hermann Stresaus historischem Roman Adler über Gallien, auch ein paar Flüsterwitze mitgebracht. «Hitler und sein Chauffeur überfahren eine Sau. Der Fahrer rennt zum Bauern, kommt erst nach Stunden wieder, sturzbetrunken und beschenkt mit Würsten und Schinken.

      ‹Was hast du ihm gesagt?›, fragt Hitler. Der Fahrer: ‹Heil Hitler, das Schwein ist tot! Da haben sie mich eingeladen.›»

      «Pst!», machte Kappe, denn immer öfter kamen Volksgenossen, die gegen die Nationalsozialisten gerichtete Witze erzählten, ins KZ und mussten den kleinen Spaß mit dem Leben bezahlen.

      Doch Trampe ließ sich nicht aufhalten. «Ein verwundeter Soldat bittet als Sterbender, die noch einmal zu sehen, für die er sterben müsse. Als man daraufhin das Bild des Führers rechts und das Bild des Reichsmarschalls Hermann Göring links neben ihn stellt, sagt er: ‹Jetzt sterbe ich wie Christus: zwischen zwei Verbrechern.›»

      Kappes Lächeln war etwas gequält. «Sei bloß vorsichtig nachher, denn es werden ein paar Verwandte da sein, die dich sofort anzeigen, wenn sie so etwas hören.»

      «Warum hast du dir keine anderen ausgesucht?», fragte Trampe, merkte aber sofort, dass er den Freund mit seinen Scherzen kaum aufheitern konnte.

      Bertha Kappe kam ins Wohnzimmer, um den Kaffeetisch zu decken. Nach dem Tod ihres Mannes war sie zu ihrem Sohn Hermann nach Berlin gezogen, weil es ihr in Wendisch Rietz zu langweilig geworden war. Mit dem Beginn der Bombenangriffe hatte sie sich jedoch schnell wieder in den Zug Richtung Scharmützelsee gesetzt. Den Geburtstag ihres Sohnes aber hatte sie nicht versäumen wollen. 78 Jahre alt war sie jetzt und hatte vom Land so viel an Wurst, Schinken, Mehl und Butter mitgebracht, dass der Kaffee- und der Abendbrottisch viel reichhaltiger gedeckt waren als sonst üblich und den allgemeinen Mangel fast vergessen ließen.

      Der große Wohnzimmertisch war ausgezogen worden, das heißt, man hatte den Mittelteil aus dem Keller geholt und zwischen die beiden halbrunden Hälften gesetzt. Außerdem war der Tisch mit der aus den Angeln gehobenen Schlafzimmertür, die auf einem Tischlerbock ruhte, um einiges verlängert worden, so dass die Erwachsenen, die in die Große Frankfurter Straße kamen, alle Platz fanden. Die Stühle reichten nicht, und die Jüngeren mussten sich mit einem Hocker oder einem umgedrehten Eimer begnügen – was die Sache aber umso gemütlicher machte.

      Nacheinander trudelten die anderen Gäste ein. Den Anfang machten seine Tochter Margarete und seine Enkelin Marlies.

      Die Dreijährige hatte für den Opa ein schönes Bild gemalt.

      «Das ist der Mützelsee, wo du ins Wasser gefallt bist.»

      Hermann Kappe bedankte sich und fragte, wo denn ihr Papa sei.

      Die Kleine zeigte zum Kronleuchter hinauf. «Der macht, dass der Licht bei dir brennt.»

      Hermann Kappe nickte. Sein Schwiegersohn arbeitete als Elektriker bei der Bewag und hatte Schichtdienst.

      Die nächsten Gäste kamen im Konvoi: sein Bruder Oskar, der mit Tabakwaren handelte und bislang ganz gut über die Runden gekommen war, mit Frieda, seiner Frau, sowie Sohn und Schwiegertochter. Otto Kappe war ein Kollege bei der Kriminalpolizei, und seine Frau Gertrud arbeitete jetzt in der Fabrik, in der sie Scho-Ka-Kola herstellten, von allen als Fliegerschokolade bezeichnet, da sie Bestandteil der Luftwaffenverpflegung war. Als Geschenk hatte sie ein halbes Dutzend Büchsen davon mitgebracht.

      «Damit du immer frisch und munter auf Draht bist, wenn du deine Mörder jagst.»

      Das, was ihm auf der Zunge lag, schluckte Hermann Kappe hinunter, denn in der Wohnungstür tauchte in diesem Augenblick sein Onkel Richard Börnicke auf, geführt von seiner Tochter Hertha.

      «Heil Hitler!», rief Richard Börnicke. «Wir treten an zum Gratulieren!»

      Als Letzte trafen seine Schwester Pauline und sein Neffe Max in der Großen Frankfurter Straße ein.

      «Macht mal, der Kaffee wird kalt!»

      Bertha Kappes Kuchen und Torten ließen alle an die seligen Vorkriegszeiten denken. Laut sagte das aber keiner, denn es gab einige überzeugte Nazis unter Kappes Gästen.

      Der Obernazi war in Kappes Augen sein Onkel Richard Börnicke, der Lebensmittelhändler en gros & en detail, der Haus und Garten in Hoppegarten an einen Wehrmachtsgeneral verpachtet hatte und mit seiner Tochter Hertha in einer Villa in Lichterfelde lebte, um es nicht so weit zu seiner Frau zu haben, die mit einer schweren Lungenerkrankung in einer Privatklinik in Wannsee lag.

      «Meinst du denn, Richard, dass wir den Krieg wirklich noch gewinnen?», wollte Bertha Kappe von ihm wissen.

      Trotz seiner nun schon 85 Jahre hieb Richard Börnicke mit einer solchen Kraft auf den Tisch, dass bei allen der Kaffee aus der Tasse schwappte. «Ich verbitte mir eine solche Frage! Das ist schon … das ist …» Das richtige Wort wollte ihm nicht einfallen. Deshalb gab er schnell das wieder, was er in Goebbels Sportpalastrede aufgeschnappt hatte: «Der endgültige und totale Sieg der deutschen Waffen ist sicher! Das deutsche Volk ist entschlossen, das Letzte herzugeben für den Sieg, und will aus ganzem Herzen den totalen Krieg. Und die Heimat steht mit starker, unerschütterlicher Moral hinter der Front und gibt ihr alles, was sie zum Siege nötig hat.» Auch die letzten Worte des Reichspropagandaministers kannte er auswendig: «Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!»

      Hermann Kappe musste sich sehr zusammennehmen, um nicht aufzuspringen und seinen Onkel achtkantig rauszuschmeißen. Auch Theodor Trampe litt unsäglich und presste unter dem Tischtuch seine Hände derart stark zusammen, dass die Knochen und Gelenke hörbar knackten. Die meisten Gäste ließen Börnickes Worte reglos über sich ergehen und widmeten sich angestrengt ihrer Torte, zwei junge Männer aber klatschten Beifall: Kappes Neffe Max, der bei der SS war, und sein Sohn Karl-Heinz, sein eigen Fleisch und Blut, der alles daransetzte, zur Waffen-SS zu kommen und für die Sache des Führers zu kämpfen. Das war etwas, worunter Kappe furchtbar zu leiden hatte, aber er sah keine Möglichkeit mehr, seinen Jüngsten von seinem Vorhaben abzubringen.

      Hertha Börnicke, die Gedichte schrieb und mehrere Romane veröffentlicht hatte, war das Auftreten ihres Vaters mehr als peinlich, und um die Situation etwas zu entschärfen, fragte sie in die Runde, von wem denn der Satz «Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!» eigentlich sei.

      «Das hat mit den Napoleonischen Kriegen zu tun», antwortete Hermann Kappe, der ein Faible für alles Preußische hatte.

      «Richtig!», rief Hertha Börnicke. «Theodor Körner, 1813. Aus dem patriotischen Gedicht Männer und Buben.»

      «Kriege ich nun eine Eins?», fragte Hermann Kappe.

      «Nein, da hättest du auch den Dichter nennen müssen. Aber eine glatte Zwei ist es.»

      Man klatschte Beifall, und gerade wollte sich die Stimmung etwas aufhellen, da begann Klara Kappe zu weinen. «Ihr lacht hier, und mein Hartmut, der …»

      Hermann Kappe nahm seine Frau in den Arm. Sie wussten, dass ihr Ältester in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, und hatten seit einem Vierteljahr nichts mehr von ihm gehört. Die Frage war, ob er in einem sibirischen Lager dahinvegetierte oder längst in fremder Erde ruhte.

      «Auch an unseren Martin sollten wir denken», mahnte Bertha Kappe. Er war der Sohn von Hermann Kappes jüngstem Bruder Albert, der den Fischereibetrieb in Wendisch Rietz übernommen hatte und nun bei den Fallschirmjägern diente. «Die letzte Nachricht von ihm habe ich aus Italien erhalten, vor der Schlacht um den Monte Cassino.»

      Bilder des Grauens stiegen in allen auf, die im Kino gewesen waren und die Bilder in der Wochenschau gesehen hatten.

      Hermann Kappes Schwägerin Frieda


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