Gott hat viele Fahrräder. Richard Fuchs

Gott hat viele Fahrräder - Richard Fuchs


Скачать книгу
Tenne abgedruckt, allerdings mit einer ungenauen Quellenangabe. Da mich der Kommentar für mein vorletztes Buch34 interessierte, habe ich lange nach der richtigen Quelle gesucht und sie über die Bibliothek des Justizministeriums NRW schließlich im Landesarchiv NRW gefunden.

       Rassenhygiene und Priester-Gen

      Wenn sich die bibelkundigen Autoren auf das Buch Esra beziehen, muss man allerdings feststellen, dass zumindest nach heutigen Maßstäben auch in Israel Rassenhygiene gängige Praxis war, wenn man zum Beispiel Esra 9,1-10,44 liest. Heute wäre das undenkbar, Frauen und deren Kinder anderer Nationen und Glaubensrichtungen in die Wüste zu schicken, einfach wegzujagen und diese damit einem ungewissen Schicksal auszusetzen. Wie sollte ich das anders nennen als Rassenhygiene? Wenn zu Anfang des Matthäus-Evangeliums in der Genealogie die komplette Ahnenreihe von Abraham bis Christus – dreimal vierzehn Geschlechter – aufgeführt werden, könnte auch dort von einer reinen Rasse gesprochen werden, auf die man offensichtlich stolz war. Irritierend ist nur, dass als Letzter in der Ahnenreihe Joseph, der Mann der Maria, genannt wird, der Jesus aber nicht gezeugt haben soll. Da erleiden die vererbten Gene einen jähen Abbruch.

      Selbst heute ist unter manchen Juden der Glaube an die reinrassige Herkunft noch fest verwurzelt. Auf der Suche nach den Ursprüngen des jüdischen Volkes entdeckten US-amerikanische Gen-Forscher mithilfe von Speichelproben anscheinend ein Priester-Gen, mit dem mutmaßlich schon der Moses-Bruder Aaron ausgestattet war. Etwa fünf Prozent der jüdischen Bevölkerung bezeichnen sich als Kohanim – Nachfahren der alten jüdischen Hohepriester-Kaste. „Entdeckt die Macht Eurer Gene“, fordert das Stammhaus der Leviten, aus dem die Kohanim stammen, im Internet auf: „Das einzigartige Gen, das alle Kohanim verbindet, macht uns zur einzigen authentischen königlichen Linie in der menschlichen Geschichte.“35 Vielleicht aber ist das nur ein einträgliches Geschäft. Denn wer sollte das genetische Vergleichsmaterial von Aaron ausgegraben haben? Eine andere Entdeckung kommt jüdischen Genealogen weniger gelegen: Ihr Volk stammt aus demselben Genpool wie die Araber.

      Die Ironie der Geschichte ist: Genetisch/ethnisch unterscheiden sich Israelis beziehungsweise Juden nicht von ihren Nachbarvölkern oder der Bevölkerung ihrer Gastländer. Juden sind in erster Linie eine Religions- und Kulturgemeinschaft. Dass sie darüber hinaus in Abgrenzung der sogenannten arischen auch als Rasse gelten sollten, lag im Interesse der Nationalsozialisten. Der Humangenetiker Prof. Otmar von Verschuer schrieb 1937 in Forschung zur Judenfrage, er verwerfe die Vorstellung, Juden seien von Nichtjuden an der Nasenform oder der Blutgruppe zu unterscheiden. Stattdessen deutet seine Auffassung von der „vergleichenden Rassenpathologie“ darauf hin, dass einzelne Krankheiten in der jüdischen Bevölkerung verbreiteter seien als in der nichtjüdischen.

       Biblisch begründete Erklärungsversuche

      Auch wenn meine Eltern ein eindeutig distanziertes, kritisches Verhältnis zur NS-Politik hatten und meine Mutter – nicht folgenlos – eine Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft verweigerte, hatten sie dennoch eine Meinung zum Schicksal der Juden, wie ich mich erinnere. Denn auch wir Kinder hatten Fragen und erwarteten wie immer schlüssige, biblisch begründete Antworten. Ich entsinne mich an einen Hinweis in der Bibel – ein Menetekel aus dem Munde Jesu –, das das Schicksal der Juden vorauseilend erklären sollte: Als Jesus gefangen wurde, folgte ihm auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte eine große Menge Volks und Weiber, welche wehklagten. Da wandte sich Jesus zu ihnen und sprach: „Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder; denn es werden Tage kommen, an welchen man sagen wird: Glückselig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! […] Denn wenn man dies tut an dem grünen Holze, was wird an dem dürren geschehen?“36 Diese nicht ganz verständliche Prophezeiung könnte so interpretiert werden: Jesus stellt das grüne Holz der Verheißung dar, das dürre Holz als das damalige Israel.37

      Nach Kriegsende und allen Verbrechen vor allem gegenüber Juden im Dritten Reich hätte man denken können, dass auch Verantwortliche der Christlichen Versammlung zu neuen Erkenntnissen gekommen wären. Aber nein! Kurt Karrenberg (1913–1967), Geschäftsführer und Schriftleiter der Christlichen Verlagsgesellschaft, einer der führenden Köpfe der Brüder, schreibt in dem offiziellen Programmheft Warum aus dem Jahr 1960: „Wir glauben, daß zwischen der Gemeinde Jesu als himmlischem und Israel als irdischem Volk Gottes klar unterschieden werden muß. Demnach unterscheiden wir auch zwischen himmlischen Segnungen für die neutestamentliche Gemeinde und irdischen Segnungen für das dereinst wiederhergestellte Volk Israel. Wir vergeistigen also nicht die Israel geltenden Verheißungen, sondern glauben, daß sie, wie die angedrohten Strafen, real an diesem Volk in Erfüllung gehen werden.“38 Damit begibt sich Karrenberg auf dasselbe Niveau wie Fritz von Kietzell, der – wie bereits erwähnt – 1934 schrieb: „Dieses Volk stand ja unter dem Fluch und sollte auch ein Fluch sein und werden. Denn Gott sorgt dafür, dass sein Wort eintrifft.“39

      Im Klartext heißt das: Nicht genug der Verbrechen gegenüber Juden im Dritten Reich, weitere Strafen an diesem Volk werden real folgen, damit ein Bibeltext in Erfüllung geht. Anders formuliert: Karrenberg rechtfertigt damit posthum die Ermordung von 6.000.000 Juden, Sinti, Roma und politisch Verfolgten (davon vorwiegend Juden) im Dritten Reich und nimmt weitere Strafen an dem Volk der Juden billigend in Kauf. Er toleriert damit unter anderem, dass 6.000 jüdische Ärzte diskriminiert, ihrer Existenz beraubt, vertrieben und ermordet wurden, dass jüdische Anwälte, Wissenschaftler, Künstler, Literaten, Kaufleute, ganz zu schweigen von der großen Zahl der anderen weniger prominenten Juden, ihre Existenz und zum größten Teil ihr Leben verloren. 1.145 Professoren und Dozenten, darunter zwanzig Nobelpreisträger, wurden entlassen und flohen zum Teil. Als Max Planck in seiner Eigenschaft als Präsident des Kaiser-Wilhelm-Instituts Hitler konsultierte und versuchte, auf ihn einzuwirken, auf die Entlassung der Wissenschaftler zu verzichten, entgegnete Hitler nach einem seiner berüchtigten Wutanfälle: „Wenn die Entlassung jüdischer Wissenschaftler die Vernichtung der zeitgenössischen Wissenschaft bedeutet, dann werden wir einige Jahre lang ohne Wissenschaft auskommen.“40

       Hierarchisches Gefälle – gefällige Bibelexegese

      Nach all diesen Tragödien der Nazizeit stellt sich die Frage: Hat Bruder Karrenberg nichts dazugelernt? Neben dieser Grundsatzschrift über die Entstehung und dem Lehrprogramm der Versammlung der Brüder verfasste Kurt Karrenberg unter anderem eine Schrift mit dem Titel Prüfet die Geister! Gemeinde und Gemeinschaft. Das Abendmahl. Auch in eigener Sache hätte die Aufforderung, prüfet die Geister, nicht schaden können.

      Wäre Karrenberg, wie viele andere tonangebende Brüder, irgendwer im Irgendwo gewesen, hätte man sagen können, da hätte jemand eine Viertelstunde länger nachdenken sollen und kaum jemand hätte seine Veröffentlichungen registriert. Aber er war, außer den oben erwähnten Funktionen, die er innehatte, zudem Autor von Beiträgen für die Zeitschrift Gnade und Friede und Gute Botschaft, des Dillenburger Kalenders und der in Wuppertal erscheinenden Botschaft. Damit genoss er einen Vertrauensbonus in den hierarchisch strukturierten Brüdergemeinden. Dabei lief Karrenberg als Nichttheologe Gefahr, in Unkenntnis der historischen Zusammenhänge vor rund 2000 Jahren und mehr, nicht nur gefällige Interpretationen der Bibeltexte zu offerieren, sondern zuweilen auch gewagte Interpretationen. Denn wenn man die Bibel wörtlich nimmt, kann man damit auch das Böse legitimieren. Das ist die Tragik des tradierten Konzepts der Brüdergemeinden.

       Vielfalt statt Einfalt

      Die in den vorausgegangenen Kapiteln beschriebenen Verbrechen gegen die Menschheit, wie das internationale Militärgericht der Alliierten in Nürnberg urteilt, Eugenik und Rassenhygiene, sollten für alle Zeiten der Vergangenheit angehören. Denn vor Gott und dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Das sichern


Скачать книгу