Gott hat viele Fahrräder. Richard Fuchs

Gott hat viele Fahrräder - Richard Fuchs


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des Weiteren als Sünde gelten solle. Er schrieb in den fünfziger Jahren: „Heute ist die Sünde zur überströmenden Flut geworden. Kino, Bilder, Bücher, Sport, Schulgefährten, Lehrer, Schulräte, Theologen, Irrlehrer untergraben Gottes Wort und Ordnung.“ Diese Aufzählung ist insofern ungewöhnlich, als Vater normalerweise in der Lage war, seine Theorien mit Bibelzitaten abzusichern. Für die Bewertung von Kino oder Sport aber bietet die Bibel nichts Geeignetes. Abgesehen von dem Generalverdacht, sogar gegenüber Lehrern oder Theologen, macht das eher willkürlich zusammengestellte Sündensortiment unausgesprochen deutlich, dass zwischen der geistlichen, geistigen Welt der Gläubigen und der Welt da draußen, wie es immer hieß, eine imaginäre Grenze verläuft.

      Wie so manches der reinen Lehre der Christlichen Versammlung war auch das Konzept der Absonderung ein Plagiat dessen, was andere in anderen Zusammenhängen, anderen Zeiten und anderem Zeitgeist vorgedacht hatten, so das gestörte Verhältnis zu Kulturgütern. Es wird nicht übertrieben sein, wenn es in der Schrift Die Sekten der Gegenwart von Paul Scheurlen heißt: „Die Stellung des ‚Darbysmus‘ zu Welt und Kultur ist völlig ablehnend. Die ‚Welt‘ liegt unverbesserlich im Argen. Aussichtslos und schriftwidrig ist der Versuch, sie mit Kräften des Evangeliums zu durchdringen. Die ‚christliche Welt‘ – welch ein Widerspruch! An Politik und Staatsleben kann sich der Christ nicht beteiligen. […] Die Versammlung treibt geflissentlich Wahlsabotage. Hinsichtlich des Kriegsdienstes empfiehlt sie, nach Posten hinter der Front zu streben. Mit Kunst und Literatur sich zu beschäftigen ist ‚weltlich‘. Der Christ hat damit nichts zu tun. Naturfreude am Sonntag ist unchristlich.“44 Dieser Verhaltenskodex wird dem Theologen J. N. Darby zugeschrieben, der als Gründer und Kopf der Brüderbewegung gilt.

       Die unsichtbare Wand

      Der breite und der schmale Weg.

       Mit freundlicher Genehmigung von Pastorin Cornelia Trick

      Der Kinofilm Die Wand nach dem gleichnamigen Roman von Marlen Haushofer macht sowohl deutlich, wie willkürlich Grenzen verlaufen können, als auch, wie unüberwindlich sie zu sein scheinen. Der Film zeigt: Inmitten einer schönen Alpenlandschaft läuft die Schauspielerin Martina Gedeck auf ihren Streifzügen immer wieder gegen eine unsichtbare Wand, hinter der das Leben wie erstarrt erscheint.

      Was der Film als harte Realität einer Depression vor Augen führt, kann in Wirklichkeit eine Wand im Leben eines Menschen sein, die er selbst errichtet hat und hinter der er sich gefangen hält, sich dahinter im schlimmsten Fall sogar geborgen fühlt. Wenn zum Beispiel Menschen im Sinne eines noch so gut gemeinten christlichen Paradigmas zum absoluten Gehorsam erzogen werden, sind sie ihrer inneren und äußeren Freiheit wie auch ihrer Individuation beraubt. Sollten sie keinen Ausbruch wagen, ist ihr Leben in unsichtbaren, aber dennoch spürbaren Wänden gefangen. Strikter Gehorsam gegenüber Eltern, Kirche und Staat hat nicht selten immer dann zu Radikalisierung, wenn nicht sogar zu Kriegen geführt, wenn Menschen, Gruppen oder ganze Nationen Exklusivität für sich beanspruchen, andere ausgrenzen oder sogar bekämpfen. So entsteht eine Wand.

       Ein Zoo ohne Trennwand

      Kürzlich las ich in der Süddeutschen Zeitung (15.04.2014), dass auch der erste israelische Zoodirektor die Bibel beim Wort nahm. Aharon Schulov – so der Name des aus der Ukraine eingewanderten Zoologie-Professors – beherbergte ursprünglich alle 130 in der Bibel erwähnten Tiere in seinem Zoo. Seine biblisch begründete Käfighaltung zeigte aber schon bald Kollateralschäden. Er kannte seine Bibel gut und las bei Jesaja 11,6: „Und der Wolf wird bei dem Lamme weilen; und der Pardel bei dem Böcklein lagern.“ Die Umsetzung dieser Prophezeiung ging schon bald eindeutig zu Lasten der Lämmer und Böcklein. Ob es gelungen ist, Löwen Stroh schmackhaft zu machen, wie es bei Jesaja weiter heißt, ist nicht überliefert.

       Der Wolf wird bei dem Lamme weilen; und der Pardel bei dem Böcklein lagern. Gemälde von Franz Hanfstaengl. Mit freundlicher Genehmigung von Hans Grüner.

       Pietisten und Brüdergemeinden

      Mit Bismarck, der ursprünglich eine eher liberale Religionsauffassung hatte, obwohl dessen Frau pietistischen Kreisen entstammte, entstand im Deutschen Reich eine tolerante Ära nach dem Prinzip: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“ Das Zitat stammt von Friedrich dem Großen. Preußen war damals, mit Ausnahme seiner Enklaven im Westen, evangelisch.

      Bereits Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sich Untergruppierungen der lutherischen Kirche, initiiert zunächst von Philipp Jakob Spener und dessen Anhänger. Sie drängten auf lebendige Herzensfrömmigkeit und werktätiges Christentum gegenüber der damals in der lutherischen Kirche herrschenden bloßen Lehr- und Bekenntnisgerechtigkeit. Der Name Pietist wurde Anfangs in Leipzig von den Orthodoxen als Schimpfname im Sinne von Frömmler für einige junge, durch Spener angeregte Leipziger Magister gebraucht, die seit 1689 erbauliche Vorlesungen über das Neue Testament (collegia pietatis) zu halten begonnen hatten; diese aber nahmen ihn bald als Ehrennamen an. Die neue Bewegung betonte besonders die „Wiedergeburt“ oder „Erweckung“ als Merkmal lebendigen Christenglaubens und in Abkehr von der Kanzelpredigt beziehungsweise Alleinherrschaft der Theologen und professionellen Pastoren in der protestantischen Kirche, die Verkündung des allgemeinen Priestertums.

      Als Prediger in Frankfurt am Main, später auch in Dresden, beginnt Spener seit 1670 neben den öffentlichen Gottesdiensten erbauliche Hausversammlungen zu halten, um die Bibel zu erklären. Sein Einfluss breitet sich im universitären Bereich in Leipzig und Berlin aus und führt zu Kontroversen, aber auch zu Besetzungen der theologischen Fakultät in Berlin und Halle. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts bleibt Halle die Inspirationsstätte des Pietismus. Bei den Lehrern der zweiten Generation zeigen sich hier allerdings auch die ersten Schwächen in Form von religiöser Schwärmerei und frommen Phrasen. Die Wiedergeborenen beginnen sich von den Kindern der Welt durch Haarschnitt, Kleidertracht und Kopfhaltung zu unterscheiden und allen Vergnügungen, wie Tanz, Theater, Kartenspiel etc., als Sünde eine Absage zu erteilen. Die Weltkinder werden zunehmend Objekte eines zuweilen zudringlichen Bekehrungseifers.

      Gegen Ende des 18. Jahrhunderts flüchtet sich der Pietismus, aus der Theologie zurückgedrängt, immer mehr in einzelne religiös angeregte Laienkreise, die sich dem Zeitgeist der Verstandesbildung entziehen. In Württemberg und den Rheinlanden rekrutieren sich Pietisten aus den mittleren und niederen Volksschichten, während er anderenorts in hocharistokratischen Kreisen als eine Art Mode gepflegt und von Schönen Seelen auch als ästhetisch ansprechend empfunden wird. Unter dem Schutz Friedrich Wilhelms IV. tagt im September 1857 in Berlin ein Zusammenschluss aller pietistischen Parteien, die sogenannte Evangelische Allianz. Hier soll es zu einer Verbrüderung aller evangelisch-freikirchlichen Gruppierungen kommen. In der sogenannten preußischen Hofpredigerpartei finden schließlich Gruppen mit pietistischen Neigungen und solche mit einer ausgeprägten Orthodoxie zusammen. In Württemberg hingegen halten sich Pietisten von kirchenpolitischen Herrschaftsstrukturen fern.45

       Brüder im Herrn

      Einen anderen Ursprung hatten die Brüdergemeinden, denen unsere Familie angehörte. Ihr geistiger Vater war der Brite John Nelson Darby. Seine späteren Anhänger nannte man auch Darbysten oder Plymouthbrüder. Darby stammte aus einer angesehenen Familie Irlands, studierte Jura und war als Advokat tätig. Plötzlich bekehrt, wandte er sich der Theologie zu und wurde zunächst Geistlicher der anglikanischen Kirche, bis er Zweifel an der Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordination bekam. Mit der Berufung auf das allgemeine Priestertum, wie es die Bibel empfiehlt, forderte er die Gläubigen aus kirchlichen Gemeinden dazu auf, sich in


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