Chronik von Eden. D.J. Franzen

Chronik von Eden - D.J. Franzen


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erwachte aus einem kurzen und unruhigen Schlaf. Orientierungslos blickte sie sich um. Dann sah sie Frank an einem der Fenster stehen und in die Morgendämmerung hinausblicken. Die Sonne färbte einen breiten Streifen des Himmels in ein rötliches Glühen. Keine Wolke war zu sehen. Der Prolog des nahenden Tages versprach wunderbares Wetter.

      Helles Wetter.

      Sandra war froh darüber.

      Die da draußen mochten es nicht, wenn es zu hell war.

      Dieser Gedanke rief ihr ins Gedächtnis, was sie heute vor hatten. Ihr Blick fiel auf die improvisierten Rucksäcke und die Wegskizze an der Tafel. Sie hatten alles getan, um ihre kleine Rettungsexpedition so sicher wie möglich zu gestalten. Frank drehte sich um und lächelte sie an.

      »Morgen. Kaffee? Ist aber leider nur löslicher, und warm ist er auch nicht mehr.«

      »Danke, ja. Wie spät ist es?«

      »Kurz vor acht.«

      »Hast du schon was von den Kindern gehört?«

      »Nein. Und auch sonst herrscht im Äther Funkstille. Wir scheinen wirklich die Letzten zu sein.«

      Sandra sah etwas in Franks Augen. Etwas, dass sie beunruhigte.

      »Was hast du?«

      »Bitte?«

      »Du wirkst plötzlich so … anders. Irgendwie gedämpfter als noch vor ein paar Stunden, wo du beinahe vor Aktivität explodiert bist.«

      Frank wandte sich wieder um. Sein Blick glitt aus dem Fenster, wo sich die schattenhaften Umrisse Kölns scharf gegen den heller werdenden Horizont abhoben.

      »Das Ganze ist Wahnsinn. Und das weißt du auch.«

      »Willst du einen Rückzieher machen?«

      »Nein. Das kann ich nicht. Frag mich nicht warum, aber es geht einfach nicht.«

      »Du hast Angst.«

      »Ja. Auch. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist. Es ist, als würde da draußen etwas auf mich warten.«

      »Was meinst du?«

      Frank seufzte. Langsam drehte er sich wieder um. Sandra zuckte erschrocken zusammen, denn in dem dämmerigen Licht glich er eher einem der Untoten, die draußen die Straßen bevölkerten. Nur dass aus seinen Augen Intelligenz blitzte.

      Intelligenz und … Selbstaufgabe?

      Sandra schluckte. Frank wirkte in diesem Moment, als sei er einer dieser Selbstmordattentäter, die sich mit einem Gürtel voller Sprengstoff um den Bauch in eine Menschenmenge stürzten. Schweigend zuckte Frank mit den Schultern. Er konnte sein Empfinden offenbar nicht in Worte fassen.

      »Bist du sicher, dass wir das auch wirklich wagen sollen?«, fragte sie.

      »Ja. Mach dich in Ruhe fertig und iss was. Es wird ein langer Weg.«

      Sandra sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Das Wasser lief nicht mehr, weil es keinen Strom mehr für die Pumpen im Keller der Schule gab. Also hatte sie wieder nur eine Katzenwäsche mit einer kleinen Wasserflasche aus dem Trinkwasservorrat der abgezogenen Einsatzkräfte und einer Handvoll Seife aus dem Spender absolviert. Über den Flur hallte Franks Stimme, der mit Jonas wie vereinbart über Funk in Kontakt stand.

      Sie sah furchtbar aus, fand sie, selbst in der dämmerigen Beleuchtung der Propangaslampe. Ungeschminkt, die Haare strähnig, und trotz aller Bemühungen roch sie wie ein Mufflon in der Brunftzeit.

      Aber sie lebte.

      Auch ohne all die angenehmen Dinge, die sie in einer immer schneller werdenden Konsumgesellschaft so dringend benötigt hatte, um sich selber gut und wichtig und funktionierend zu fühlen.

      Keine Handys, keine Kriege, keine neuen Diäten, damit frau sich im kommenden Herbst auch weiterhin in das kleine Schwarze zwängen konnte. Lippenstifte, Haarpflegekuren und Deos waren in dieser neuen Welt ebenso unwichtig geworden, wie die aktuellsten Aktienkurse, hohle Politikerfloskeln über wachsende oder sinkende Arbeitslosenzahlen im Angesicht eines wirtschaftlichen Ab- oder Aufschwungs; und die Frage, ob sie sich lieber ein sündhaft teures Paar Schuhe kaufen sollte, wenn es ein anderes Paar zu einem wesentlich günstigeren Preis doch auch tat, hatte sich ebenfalls mit einem Schlag erledigt.

      Erstaunt schüttelte sie den Kopf.

      Das Leben war einfacher und komplizierter zugleich geworden. Die Katastrophe hatte die wirklich wichtigen Dinge des Lebens wieder in die richtige Perspektive gerückt, die Prioritätenliste einer von sich selbst und ihren Errungenschaften gelangweilten Menschheit einer brutalen Neustrukturierung unterzogen.

      Wie hatte Frank letzte Nacht so launig angemerkt?

      Die Menschheit hatte auf einem dahinrasenden Laufband gestanden und war im Begriff gewesen, sich selber zu überholen, als der alte Mann da oben das Band abrupt zum Stehen gebracht hatte.

      Und das spürte man.

      Die Luft über Köln hatte früher immer einer Käseglocke aus Abgasen geglichen. Die Stimmen der Vögel waren unter dem Lärm unzähliger Autos, Busse und Menschen nicht mehr zu hören gewesen, und das Tosen des Kreislaufs der Zivilisation war für sie zu einem alltäglichen Hintergrundrauschen geworden. Jetzt, nach … wie lange war es her, dass die Menschheit vor die Hunde gegangen war? Zwei oder drei Monate? Schon nach dieser kurzen Zeit sangen die Vögel wieder ihre morgendlichen Begrüßungen in den Sonnenaufgang, der Himmel war klarer, selbst wenn es regnete und die Stille, die sie anfangs noch teilweise wie ein wildes Tier angesprungen hatte, war zu einem willkommenen Freund geworden, den sie jeden Tag aufs Neue begrüßte.

      Ja, das Leben war für Sandra einfacher geworden.

      Lebenswerter trotz, oder gerade wegen, des täglichen Kampfes ums Überleben, den die Meisten nicht geschafft hatten. Sie begann wieder, die kleinen Dinge schätzen zu lernen, die ihr den Tag versüßten.

      Schritte erklangen im Hausflur. Sandra drehte sich mit einem Lächeln um. Frank stand in der Tür. Sein Blick war wach und konzentriert, aber nicht mehr so schicksalsergeben, wie noch vor knapp einer Stunde.

      »Bist du soweit?«

      »Noch vor wenigen Wochen hätte ich dich entweder aus dem Bad geworfen, oder dir mit unmissverständlichen Worten klar gemacht, dass eine Frau erst dann fertig ist, wenn sie eben fertig ist.«

      Frank lächelte, runzelte aber gleichzeitig die Stirn. Es sah lachhaft aus, wie er versuchte klug, und nicht allzu verwirrt auszusehen.

      »Wie meinen?«

      »Du wirst mich so zu unserem Ausflug ausführen müssen, wie ich jetzt hier vor dir stehe.«

      Verstehen dämmerte in Franks Gesicht, und er grinste wie ein kleiner Junge.

      »Sandra, du siehst umwerfend aus. Es erfüllt mich mit Stolz, eine so schöne Frau an meiner Seite wissen zu dürfen.«

      »Schleimer.«

      Frank zwinkerte ihr zu. Dann wurde er ernst. Der ungezwungene Moment ihrer Witzeleien verflog wie das Licht eines Sonnenstrahls, der hinter einer Wolke verschwand.

      »Wir sollten uns beeilen. Jonas und die anderen Kinder halten nicht mehr lange aus. Wenn wir es schaffen, sollten wir auch eine Apotheke suchen. Wir brauchen dringend ein paar Aspirin, Antibiotika und Verbandszeug.«

      Sandras Lächeln erstarb auf ihrem Gesicht. Sie spürte, wie die Notwendigkeiten ihres neuen Lebens dicken Hagelkörnern gleich auf sie einprasselten.

      Medikamente.

      Ja.

      Ärzte gab es wohl keine mehr. Sie mussten sich ab sofort selber versorgen können. Ein Kratzer konnte schon zu einer Blutvergiftung führen, die wiederum zum Tod … der anschließend zu noch viel Schlimmerem führte. Sie nickte.

      »Dann lass es uns hinter uns bringen.«

      Er, der sich selber jetzt als


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