Chronik von Eden. D.J. Franzen

Chronik von Eden - D.J. Franzen


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in die Wirklichkeit. Auch wenn Stark tatsächlich so ein Fluch- und Verdammnisprediger gewesen sein mochte, er war einem guten Schluck zum Runterspülen des Schwefelgeschmacks nach einer Predigt offenbar nicht abgeneigt. Er war also ein Mensch. Ein gut gerüsteter und gläubig dazu.

      »In Groß Sankt Martin ist eine kleine Gruppe Überlebender eingeschlossen«, rief er dem Pfarrer hinterher.

      Stark erreichte die Tür des Kirchturms.

      »Ich schließe diese armen Sünder in meine Gebete ein«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Möge Gott ihnen ihre Sünden verzeihen, ihnen das ewige Himmelreich schenken und so weiter und so fort.«

      »Es sind Kinder.«

      Stark hielt inne. Langsam drehte er sich um.

      »Was sagst du da?«

      »Es sind Kinder, Herr Pfarrer. Sie sind allein, sie haben Angst und sie brauchen unsere Hilfe.«

      Frank stieg aus dem Wagen und zog seinen improvisierten Rucksack von der Schulter. Er holte das Funkgerät hervor und schaltete es lauter.

      »Jonas? Kannst du mich hören? Ich bin´s. Frank.«

      Rauschen.

      Dann eine leise Kinderstimme.

      »Ja, ich kann dich hören. Kommst du uns jetzt holen?«

      »Wir sind unterwegs, Jonas. So wie es aussieht, haben wir unerwartet Hilfe bekommen.«

      Stark kehrte langsam zu dem kleinen Wagen zurück. Sein Blick fixierte das mobile Funkgerät. Die Whiskeyflasche baumelte vergessen in seiner Hand, seine Augen füllten sich mit Tränen.

      »Bitte beeilt euch. Wir haben Hunger und Durst.«

      Frank sah, wie Stark schluckte.

      »Wir beeilen uns. Ich melde mich wieder.«

      »Ja. Over und out.«

      Frank schaltete das Funkgerät wieder leiser. Prüfend musterte er den Pfarrer. Stark hob den Blick und sah Frank an.

      »Die Kinder, die einzigen Gefäße von Unschuld und Reinheit, hat der Herr in seiner Weisheit als Erste zu sich geholt«, sagte der Pfarrer. »Sie konnten dem Grauen der Apokalypse am wenigsten entgegenstellen. Ich habe schon seit Wochen keine dieser kleinen Seelen mehr gesehen.«

      »Helfen Sie uns?«, fragte Sandra.

      Stark nickte.

      »Ich kann es nicht beschwören, aber wenn es überall auf der Welt so aussieht wie hier, dann könnten es die Letzten sein.«

      »Bitte?«, fragte Sandra.

      »Ich sagte, es könnten die Letzten sein. Ein Kind kann sich noch viel weniger gegen diese Bestien wehren, als es ein Erwachsener vermag.«

      Stark verstaute seine Flasche. Mit Bewegungen, die zuerst zögerlich wirkten, dann aber immer entschlossener wurden, legte er seinen Schild auf die Rückbank neben Frank und Sandra. Anschließend zog er den Morgenstern aus seinem Gürtel und setzte sich in das Gefährt.

      »Vielleicht hat mir der Herr in seinen unergründlichen Entschlüssen doch noch eine Chance gegeben, und mir den Weg zu einer neuen Herde gewiesen, deren Hirte ich sein darf.« Er startete den Wagen, wendete und fuhr auf die Straße zurück.

      »Holen wir sie da raus. Retten wir Gottes letzte Kinder.«

      Papa hatte sich noch einmal am Fleisch eines der anderen gestärkt, aber es war zu spät. Das warme Rote war entkommen. Er hatte es noch ganz in der Nähe spüren können, war seinem Instinkt gefolgt und dennoch zu langsam gewesen. Ein merkwürdiges Ding, das einem Auto ähnelte, war mit dem warmen Roten weggefahren. Er war sich nicht sicher, aber konnte es sein, dass da plötzlich sogar mehr warme Rote drin gewesen waren? So schnell er konnte, war er dem Weg gefolgt, den die Häuser ihm freigaben, suchte im hellen Leuchten, dass ihm jetzt nicht mehr solche Probleme bereitete. Ja, es waren mehrere warme Rote in diesem Auto. Sie fuhren auf eine Gruppe anderer Dunkler zu, schleuderten einige von ihnen zur Seite und verschwanden schließlich.

      Knurrend starrte Papa ihnen hinterher. Die Stärke, die er aus den anderen gewann, die so waren wie er, hielt nicht lange vor. Lag es am hellen Leuchten oder daran, dass die anderen dunkel und kalt waren? Ein Problem, das ihm ein diffuses Unbehagen bereitete, für das sein Bewusstsein kein Wort fand. Er wurde sich der Präsenz der anderen bewusst, die hinter ihm standen. Sie blickten ihn dumpf an, schienen auf etwas zu warten.

      Auf ihn?

      Auf eine … Entscheidung?

      Verwirrende Eindrücke, Bilder und Gedankenfetzen schossen durch sein Bewusstsein. Eindrücke, die mit merkwürdigen Worten wie Führerschaft, Krieger und Jagd einhergingen.

      Was hatte das alles zu bedeuten?

      Ein dumpfes Pochen machte sich in seinem Kopf breit. Er kniff die Augen zusammen, versuchte das dunkle Heiße und die Gier in seinem Inneren zu kontrollieren, welche die Eindrücke und Worte, die in seinem Kopf kreisten, immer und immer wieder anfeuerten. Waren ihm die anderen gefolgt, als er das warme Rote gejagt hatte? Warum waren sie dann nicht einfach weitergelaufen? Warum hatten sie ihre Hatz aufgegeben?

      Das Pochen in seinem Kopf wurde schlimmer, denken war schwer, so schwer, aber es musste sein, er spürte es, weil hinter diesem Pochen die Antworten lagen, die ihn zu seinem Ziel führen würden, das warme Rote endlich essen zu können, um endlich die Macht wahrer Kraft zu erlangen …

      Krieger!

      War das die Antwort?

      Was waren Krieger?

      Papa öffnete die Augen, sah die anderen immer noch hinter sich stehen.

      Abwartend.

      Waren das Krieger?

      Würden sie für ihn das rote Warme kriegen, ihm bringen, damit er es essen konnte?

      Das Pochen ließ nach.

      Die Gier gab ihm die Antwort.

      Er ging auf die anderen zu, durch die das warme Rote eben gefahren war. Er griff nach dem Erstbesten, trieb seine Zähne in den Hals des anderen, riss ein Stück heraus und warf ihn mit einer verächtlichen Geste hinter sich. Er kaute, schluckte, nahm sich den nächsten, biss wieder zu, kaute, schluckte, schleuderte den Körper zur Seite ... dann blieb er stehen und drehte sich um. Die, die ihm gefolgt waren, rissen die anderen in Stücke. Sie folgten seinem Beispiel.

      Die Starken fraßen die Schwachen.

      Das war gut, dennoch machte sich ein warnendes Gefühl in Papa breit.

      Seine Krieger durften nicht stärker werden als er, weil sonst seine Führerschaft in Gefahr wäre. Wenn seine Krieger zu stark werden würden, dann würde er seine Macht über sie verlieren, dann könnten sie das warme Rote für sich alleine kriegen, und das wäre nicht gut.

      Papa beobachtete das Gemetzel seiner Krieger unter den Schwachen, sah, wie einer von ihnen die anderen zur Seite drängte, um selber mehr von der Kraft zu bekommen.

      Das war gut und nicht gut zugleich.

      Papa folgte einer Eingebung, die ihm die Gier einflüsterte, ging auf den anderen zu, riss ihn vom Körper eines Schwachen weg. Knurrend hob der andere seinen Blick, fletschte die Zähne. Die restlichen Krieger hielten inne. Getrieben von der Gier nach Macht griff Papa blitzartig nach dem Gesicht des gefährlichen Kriegers, drückte seine tumben Finger in die Augen seines Gegners. Die Hände des Kriegers suchten haltlos nach Papa, versuchten ihn zu treffen, aber Papa beugte sich zurück, trieb seine Finger noch tiefer in den Kopf des anderen … dann ließ er los.

      Der geblendete Krieger torkelte hilflos, wankte auf der Suche nach seinem Gegner über die Straße. Papa wartete einen Moment, so wie es ihm die Gier in seinem Inneren riet.

      Die anderen seiner Krieger standen reglos da.

      Dann ging er auf den Geblendeten zu, riss dessen Kopf an den Haaren nach hinten, trieb seine Zähne in dessen Hals und warf ihn dann achtlos beiseite.


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