Der bessere Mensch. Georg Haderer

Der bessere Mensch - Georg Haderer


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      Georg Haderer

      Der bessere Mensch

      Kriminalroman

      1.

      Wien, den 19.5.1984

      Werter Max,

      die Unterlagen, die ich Dir zu senden versprochen habe, sind nun über eine Woche auf meinem Schreibtisch gelegen. Jeden Tag nahm ich mir vor, sie mit einer kurzen persönlichen Notiz zu versehen und zur Post zu bringen. Warum ich es so hinausgezögert habe – sei versichert, dass es nicht um den heiklen Inhalt der Dokumente geht. Nach unseren Gesprächen in Magdeburg könnte mein Vertrauen in Dich diesbezüglich größer nicht sein. Wissen wir doch beide sowohl um die Dimension als auch die damit verbundene Verantwortung, die uns solch ein Projekt auferlegt. Ich bemerke, dass ich erneut abschweife und mich dem eigentlichen Beweggrund meines Schreibens entziehe. Eine Ironie, die Dir sicher nicht entgeht: Doktor Hofer, eine Koryphäe, wenn es darum geht, die conditio humana aus den Funktionsweisen des Gehirns zu entschlüsseln – und selbst vermag ich nicht viel anders zu denken und zu verdrängen als jene, die nichts wissen über die Biologie unseres Geistes.

      Wie eitel ich nach Magdeburg gereist bin, mit meinem Wissen und meinen Erfolgen. Wie klein und ohnmächtig ich nun bin. So tief und aufwühlend sind die Eindrücke, die unsere Gespräche in mir hinterlassen haben. All die Dinge, die ich vergangen und entschuldigt geglaubt hatte durch meine scheinbar so großmütigen Taten. Wo Dein Herantreten an mich, ohne Vorwürfe, ohne Hass – sine ira et studio gewissermaßen, wie der große römische Denker sagte –, wohl großmütiger war als alles, was ich je geleistet habe. Nicht ich war es, wirst Du wiederum sagen. Doch wie könnte ich mich lösen von der Schuld, von den unsäglichen Verbrechen, die Dir und Deiner Familie angetan worden sind. Fast dreißig Jahre trage ich dieses Wissen in mir. Jetzt ist es aufgebrochen wie ein schwärender Abszess. Endlich, möchte ich sagen. Wenn es denn dazu beitragen kann, dass wir aus diesem Bösen etwas wahrhaft Gutes schaffen können, wie Du gemeint hast. Für diese Deine Zuversicht bewundere ich Dich. Nur deshalb wage ich zu hoffen, dass unser Treffen in Magdeburg den Grundstein gelegt hat nicht nur für eine vielversprechende Zusammenarbeit, sondern auch für eine tiefe Freundschaft.

      Mit dem Ausdruck herzlicher Zuneigung

      Gernot

      PS: Solltest Du über die beigelegten Dokumente hinaus noch zusätzliche Informationen zu diesem Fall benötigen, stehe ich Dir jederzeit zur Verfügung.

      2.

      Ja verdammt, sie hatten ihn gewarnt. Aber wer war er denn, dass er sich von Kovacs und dem anderen uniformierten Grünschnabel Ratschläge erteilen lassen musste. Herr Major, Sie sollten da besser nicht hineingehen. Hö hö, was glaubten die? Dass er beim Anblick einer Leiche den Handrücken auf die Stirn pressen und ohnmächtig zu Boden sinken würde wie eine Schwarzweißfilmdiva im Laudanumrausch? Fast zwanzig Jahre bei den Gewaltverbrechen. Da hatte sich sein Gehirn eine passable Schutzeinrichtung zugelegt. Klappte herunter wie die Brille eines Schweißers, wenn der Teufel am Tatort seine bösen Funken schleuderte. Geharnischt, geharnischt. Jetzt lehnte Schäfer über der Steinbrüstung und erbrach die Vormittagsjause auf die Pfingstrosen unter ihm. Argh, wargh, schlussendlich ein brauner Speichelfaden, holladrio, Herr Major, ein letzter Gruß des doppelten Espressos aus dem Büro. Jetzt ja kein blödes Wort, Kollegen, dachte er, während sein Magen von Krämpfen gewürgt wurde. Doch Kovacs sah nur einen Moment sorgenvoll zu ihm hin, verschwand hinter dem Haus und kam mit einem Glas Wasser zurück, das er dankbar entgegennahm.

      „Was ist das für ein bestialischer Gestank?“, wollte Schäfer wissen, auch um klarzustellen, dass es nicht der schleimige und so gut wie kopflose Torso im Wohnzimmer gewesen war, der ihm so auf den Magen geschlagen hatte.

      „Wahrscheinlich Phosphorsäure“, brachte sich der Uniformierte ein, dessen Gesicht die Farbe der beiden neorömischen Gipsstatuen hatte, die den breiten Terrassenaufgang zierten. „Deshalb auch die Schutzmasken.“

      Kommentarlos wandte sich Schäfer ab, schritt langsam über die Steintreppen hinunter, prüfte das Gras mit der Hand auf Feuchtigkeit und setzte sich dann an den Stamm einer üppigen Magnolie. Phosphorsäure, bravo. Und das im Villenviertel von Grinzing. War ein Jagdgewehr plötzlich nicht mehr en vogue? Der sich um den Hals schnürende Bademantelgürtel zu pöbelhaft? Dass irgendwer diese Sauerei wegmachen musste, hatte der Verantwortliche in der Aufregung wohl vergessen. Esperanza, por favor, meinem Mann ist im Salon ein kleines Malheur passiert, lassen Sie das Silber doch einen Moment liegen und kümmern Sie sich darum. Gracias, Esperanza.

      „Ruhe da oben!“, knurrte Schäfer seinen verrückt dahingaloppierenden Gedanken zu. Er stieß sauer auf und atmete ein paarmal tief durch, noch immer benommen von den Dämpfen, unfähig, sich auch nur ein ungefähres Bild davon zu machen, was in der Villa geschehen sein könnte. Über die Auffahrt sah er drei weiße Schutzanzüge in Richtung Haus gehen, in der rechten Hand den Koffer, in der linken die Gasmaske. Hoffentlich hinterließ das Zeug keine bleibenden Schäden. Schäfer hob eine Hand zum Gruß. Phosphorsäure, wer lässt sich so einen Scheiß einfallen … nun, zumindest die Identität des Toten stand mit hoher Wahrscheinlichkeit fest. Anhand der Kleidung und dessen, was vom Körper übrig geblieben war, hatte die Besitzerin der Villa bestätigt, dass es sich um ihren Mann, Hermann Born, handelte. Der Gärtner hatte ihn kurz vor neun Uhr gefunden, durch die Terrassentür gesehen, als er seinen Arbeitgeber fragen wollte, ob er den Rasen am Vormittag oder besser am Nachmittag mähen sollte. Wegen dem Lärm, verstehen Sie, hatte der geschockte Mann gemeint, wegen dem Lärm, dass Herr Born nicht gestört wird in seinen … was immer er auch um diese Zeit in seinem Wohnzimmer tat. Na, darum brauchen Sie sich jetzt wohl keine Sorgen mehr zu machen, hatte Schäfer geantwortet, bevor er ins Haus gegangen war. Jetzt, im Halbschatten der Magnolie, fragte er sich, woher dieser Sarkasmus kam, mit dem er in letzter Zeit seine Mitarbeiter des Öfteren verstörte. Noch eine Nebenwirkung der Medikamente? Oder bloß eine natürliche Schutzfunktion, um sich diesen ganzen Wahnsinn nicht mehr so nahegehen zu lassen. Wer waren denn die schärfsten Zungen, wenn nicht die Gerichtsmediziner, Mordermittler, Rettungswagenfahrer … wir sprühen unser geistiges Gift wie andere Unkrautmittel, dass es uns nicht zuwuchert, parasitär aussaugt, dachte Schäfer, wunderte sich kurz über diese poetische Anwandlung und stand dann mit einem Stoßseufzer auf.

      „Wo ist Bergmann?“, rief er Kovacs zu, die gerade konzentriert in ein Notizbuch schrieb.

      „In der Gartenlaube, hinter dem Haus“, erwiderte Kovacs, und als er sich auf den Weg dorthin machte, fügte sie rasch hinzu: „Mit Frau Born!“, was Schäfer als dezenten Hinweis interpretierte, dass er sich in Anwesenheit der Witwe zu benehmen hätte.

      Gemächlich ging er auf die Gartenlaube zu, blieb kurz davor stehen und hörte der Befragung zu, die sein Assistent wie gewohnt einfühlsam durchführte. Etwas, das Schäfer in den letzten Wochen ein wenig abhandengekommen war, wie er sich selbst eingestehen musste. Zuletzt hatte er einen Jugendlichen an den Haaren durch den Verhörraum geschleift; hätte dessen Vater nicht Verständnis für diese Überreaktion aufgebracht, wäre Schäfer ein Disziplinarverfahren sicher nicht erspart geblieben. Dann der Bulgare, der mit der Hand in die Stahltür des Verhörraums gekommen war, als Schäfer sie eben schließen wollte. Böser Zufall, na, mit dem sechsfach gebrochenen Prätzchen wird er jedenfalls kein Messer mehr führen können, hatte der Arzt anbiedernd gemeint, was Schäfer bewogen hatte, ihn einen Faschisten zu schimpfen. Er hatte sich nicht unter Kontrolle; schrieb es den Tabletten zu, die er seit zwei Monaten nahm: Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, die ihm sein Therapeut verschrieben hatte, um die Depressionen und Panikattacken loszuwerden, die ihn fast zwei Jahre lang gepeinigt hatten. Aggressionsschübe und euphorische Phasen waren als Nebenwirkungen bekannt – das wird sich legen, hatte ihm der Arzt versichert, notfalls solle er übergangsweise leichte Tranquilizer nehmen. Na sicher nicht! Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ging es ihm gut, wirklich gut; er war konzentriert, arbeitete schnell und vor allem gern, trieb mindestens viermal die Woche Sport … das würde er sich nicht nehmen lassen; und wenn sich ein paar Strolche deswegen hin und wieder eine Ohrfeige einfingen oder ein paar Knochen zu Bruch gingen: Berufsrisiko.

      „Natürlich hatte er Feinde“, hörte Schäfer die Frau sagen, „Sie haben doch bestimmt seine politische Laufbahn verfolgt … er hat mehr Feinde als Freunde gehabt … vor allem nach dieser unappetitlichen Geschichte damals …“


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