Europa auf der Intensivstation. Rahim Taghizadegan
scheint stets unter auffälliger Spannung gestanden zu haben, dicht gepackt und doch nicht eins. Spaltung und Einigung waren ständige Gegensätze, die einander bedingten. Die Geographie trennte das Nahe und verband das Ferne: Die Vielfalt getrennter Täler erhielt eine besondere Sprachen- und Dialektvielfalt, doch die Zahl schiffbarer Flüsse und Binnenmeere (Nordafrika war einst zum europäischen Kern zu zählen) begünstigte den Fernhandel. Die Gespaltenheit nährte religiöse und intellektuelle Einigungsbewegungen, welche wiederum neue Spaltung erzeugten.
Diese Spannung entlud sich oft in Wahn und Blutvergießen, doch sie erwies sich als fruchtbar. Hinreichend Einigkeit für den Austausch von Ideen und Gütern, hinreichend Spaltung, um zu verhindern, dass keiner der vielen Irrtümer jemals den gesamten Subkontinent erfasste – zumindest nicht bis zu den Weltkriegen. China war geeinter, homogener und fiel zurück, weil zentralistische Fehler gravierendere Auswirkungen hatten: als etwa mit einem Schlag die Entdeckungs- und Handelsreisen der viel höher entwickelten chinesischen Flotte durch ein Verbot beendet wurden.
Haben wir zu viel Spaltung in Europa oder zu viel Einheit? Beides, denn die fruchtbare Spannung droht verloren zu gehen, weil die Geduld für Widersprüche sinkt und alles dem Mittelmaß untergeordnet wird. Es ist das Manko der Politik mit ihren Kompromiss-»Lösungen«, die für alle gleich zu gelten haben. Wir bräuchten Einigung ohne Einheitlichkeit und Widerspruch ohne Spaltung39.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 3, 7, 40, 45, 48, 53, 58, 66
3. Ist es nicht ein Privileg in Europa zu leben?
Europa2 ist ein Gebiet der Erde, das besonders dicht an vielfältiger Kultur45 und Geschichte ist, damit gewiss ein Teil der Welt, für den man viel empfinden kann. Einst reichster Platz der Welt, bietet es noch relativ hohen Wohlstand. Das »Privileg« eines Lebens in Europa meint hauptsächlich den Zugang zu diesem Wohlstand.
Der größte und wichtigste Teil dieses Wohlstands ist unsichtbar, er ist nicht in Geld oder Konsumgütern ausgedrückt. Es ist der unter der Oberfläche liegende Teil des Eisbergs, den die Kapitalstruktur bildet. Kapital im tieferen Sinne wird gebildet durch all jene Verbindungen von Geistigem und Materiellem, die helfen, menschliche Ziele zu erreichen.
Am wenigsten sichtbar und damit am meisten unterschätzt ist stets die geistige oder kulturelle45 Komponente. Werkzeuge sind wertlos ohne das Wissen und die Fähigkeit, sie zu nutzen. Und die Voraussetzung für materielle Werkzeuge sind geistige Werkzeuge wie Sprache, Vorstellungskraft, Problemlösungsfähigkeit47. Die Gesamtheit nützlicher Verbindungen geistiger und kultureller Elemente dieser Art können wir kulturelles Kapital nennen.
Die hohe Lebensqualität für viele (nicht alle) Menschen in weiten (nicht allen) Teilen Europas ist nichts anderes als die Möglichkeit, das vorhandene Kapital zu nutzen. Eine Nutzung, welche die Abnutzung oder Vergänglichkeit von Kapital jeder Art nicht kompensiert, ist Konsum. Viele Konsummöglichkeiten sind nur über Tausch zugänglich, weil sie von uns fremden Menschen privat bereitgestellt werden. Teile Europas scheinen sich dadurch von anderen Orten zu unterscheiden, dass relativ mehr freie Konsummöglichkeit besteht: viel freier Zugang zu Natur49 und Kultur45. Das ist einerseits die Folge hohen unsichtbaren Kapitals: Die vermeintliche Natur Europas ist das Ergebnis besonders langer und kapitalintensiver Landschaftspflege. Der freie Zugang ist wiederum eine Folge hohen Wohlstands (wenn die Bewirtschaftung über Zugangskontrolle gar nicht lohnt), vielmehr aber noch die Folge einer lange gewachsenen Kultur hohen Vertrauens40.
Dieser Teil des kulturellen45 Kapitals schwindet jedoch am schnellsten, daher wird auch die Lebensqualität in Europa für die meisten Menschen sinken. Insbesondere dann, wenn diese Lebensqualität von Menschen, die sie konsumieren, ohne zu ihr beizutragen, wütend als Recht und unverdienter Identitätsstolz4 proklamiert wird.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 9, 40, 47, 56, 57, 60, 62
4. Sollten wir nicht gerade jetzt die europäische Identität stärken?
Identität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Sie stellt unsere Existenz in einen größeren Sinnzusammenhang. Grundbedürfnisse sind Teil unserer Natur49. Diese müssen wir respektieren, sonst richtet sie sich gegen uns. Doch wir sollten ihr mit Vorsicht begegnen – wie einem wilden Tier.
Die europäische Identität erscheint vielen als Hoffnungsschimmer, weil sie an die Stelle des Nationalismus treten soll, der in Europa besonders stark wütete. Doch gerade der heute so gefürchtete deutsche Nationalismus war einst als fortschrittliche Einigungsbewegung angetreten, als moderne Identität freier Bürger60. Ein »Wir« wird aber am stärksten genährt durch gemeinsame Feinde.
Die neue europäische Identität ist noch frisch, nicht durch Kriege belastet, sogar dem Frieden verbunden. Doch sie benötigt ebenso den Kontrast zu den Anti-Europäern, den ewiggestrigen Nationalisten oder zu den USA57. In der ersten Ausprägung kann man dann »europäische Gesinnung« leicht mit den Interessen einer kosmopolitischen Oberschicht verwechseln, welche geringschätzig auf die Unterschicht blickt, die nicht genug Muße zum Reisen und nicht genug Beziehungen für die internationale Karriere hat. In der zweiten Ausprägung ist es der Anti-Amerikanismus, der ein wichtiges Korrektiv zu imperialem Zynismus und transatlantischer Ergebenheit sein mag, aber keine positive Identität nähren kann, nur Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, kulturellen Snobismus und weinerliche Nostalgie.
Identität gibt Kraft, und als Einzelmensch mit einem Kontinent mythisch verwoben zu sein, mag Sinn stiften. Da ist es allerdings ein wunder Punkt, dass der Kontinent nicht klar abtrennbar von der asiatischen Masse ist. Man könnte das Christentum bemühen, das wäre aber zu universalistisch für einen engeren Europäismus und zu unmodern für den aufgeklärten Europäer.
Europäische Identität meint daher oft nur die politische Position, eine weitere Übernahme von Agenden durch die EU5 zu befürworten. Doch die vermeintliche Einigung könnte sich noch als Spaltung39 erweisen.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 2, 3, 23, 46, 49, 57, 59, 60
5. Können die Folgen von Pandemie und Wirtschaftskrise nur auf europäischer Ebene bewältigt werden?
Die Europäische Union ist die große Nachkriegshoffnung Europas. Sie drückt den Wunsch nach Einigung und Frieden aus und ist ein ambitioniertes Projekt der Gründung einer neuen Institution, das – trotz aller Probleme