Europa auf der Intensivstation. Rahim Taghizadegan
Realismus und schwindende Lernfähigkeit.
Nicht das »Jammern auf hohem Niveau« ist das Problem, sondern die Kritik- und Antriebslosigkeit auf unverdientem Niveau. Die Gewöhnung an hohe Lebensqualität3 bei schwindendem eigenen Beitrag führt notwendigerweise zu Schocks: zum Platzen von Blasen18.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1, 6, 8, 12, 17, 30, 35, 53, 57
10. Warum wurde Europa zum Epizentrum?
Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Letalität14 und hoher Virenlast sowie Anhäufung von Risikogruppen. Das bedeutet: Alte Menschen in geschlossenen Räumen sind das wesentlichste Element des Epidemiegeschehens.
Womöglich wird letztlich der größte Teil des norditalienischen Horrors dem staatlich gesteuerten Sammeln von Infizierten in Spitälern und Altersheimen zuzuschreiben sein, wenn jemals eine Aufklärung des Geschehens gelingt. Ähnliches ist in New York geschehen.
Die Italiener hatten allerdings auch Pech: früher einsetzende Ansteckungsdynamik bei noch geringerem Wissensstand und noch geringerer Aufmerksamkeit. Höhere Anzahl von Mehrgenerationenhaushalten; vielleicht hat auch die körpernähere Kultur eine Rolle gespielt – eigentlich Dinge, die für die Italiener sprechen. Am stärksten wirkte wohl ohnehin spontane »soziale Distanz«, nachdem die Sorge in der Gesellschaft gewachsen war. Auch diese freiwillige Vorsicht setzte in Italien erst später ein, wirkte aber in den anderen europäischen Staaten – darunter auch Schweden, wo sich die Ausbreitung nach bereits geweckter Sorge vollzog.
Italien wurde als Tourismusdestination52 – so wie Deutschland als Industriedestination – früh von Infizierten besucht; für die Schuldzuweisungen an die Modeindustrie, in der relativ viele Chinesen – oft illegal – arbeiten, gab es keine weiteren Belege. Italien hatte auch relativ früh die direkte Einreise aus China unterbunden, was angesichts moderner Mobilität relativ wirkungslos ist. Völlige Grenzschließungen hätte man damals ausnahmslos für Irrsinn gehalten.
Mittlerweile müssen wir auch Ansteckungs- und Todes-Epizentren unterscheiden. Hohe Todeszahlen verweisen auf große Ansteckungsdynamik unter überdurchschnittlich alten und kranken Menschen. Hohe Ansteckungszahlen entstehen durch »Superspreader«: längere Nähe in geschlossenen Räumen mit viel Atemaustausch durch lautes Sprechen, Singen und intensivem Mundkontakt.
Das Epizentrum Ischgl in Tirol war eines der Ansteckung, die Todeszahlen vor Ort sind überraschend niedrig – statistisch unter der Relevanzschwelle. Verbindungen zu Todes-Epizentren anderswo sind bislang nicht belegt, zumal nach Ischgl der Fokus schon auf der Pandemie lag und die Vorsicht entsprechend größer war.
Warum lag das Epizentrum der Pandemie nach China58 nicht in Asien? Die dynamischsten Orte mit dem höchsten Verkehr aus China – Singapur, Hongkong und Taiwan – waren nach vergangenen Epidemien vorbereitet. Es gab keinen Mangel an Schutzausrüstung, mehr Vorsicht in der Gesellschaft und frühes Nachverfolgen möglicher Ansteckungsketten auf höchstem technischen Niveau.
Letzteres ist in Europa aus Gründen des Datenschutzes13 nicht möglich. Die Ansteckungsdynamik durch das Verhalten freier Menschen war aber kaum der Kern des Problems. Die Übersterblichkeit hätte wohl durch früheren Schutz der Risikogruppen vermindert werden können. Und auch das hätte vor allem die Unterlassung einer Gefährdung durch mangelhafte Prozesse im Gesundheitssystem bedeutet, durch welche die dichte Ansammlung von Alten und Kranken in geschlossenen Räumen in Europa eher die Regel als die Ausnahme ist.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 8
11. Sollten exponentielle Entwicklungen verhindert werden?
Seit der Pandemie8 ist die Furcht vor exponentieller Entwicklung noch größer geworden. Schon davor hatten Kritiker unseres Wirtschaftssystems vor unbeschränktem Wachstum50 gewarnt.
Tatsächlich findet in der Regel eine Verwechslung statt: Die meisten Prozesse, die als Exponentialfunktionen erscheinen, sind tatsächlich S-Kurven (Sigmoidfunktionen).
Unser Gehirn tut sich extrem schwer dabei, Selbstbeschleunigung und Selbstverlangsamung zu verstehen, da beides nichtlineare Prozesse sind. Die S-Kurve verbindet beides: Die Selbstbeschleunigung wird erst bemerkt, wenn sie so steil wird, dass sie in die Vertikale geht; dann schlägt Sorglosigkeit in Panik um. Der Punkt des steilsten Aufstiegs in der S-Kurve ist aber schon der Wendepunkt.
Natürliche Prozesse sind komplexe Kombinationen: Das rasante Wachstum eines Faktors entfernt diesen von den anderen Faktoren, die er als Nährboden, Elemente und Verbindungen benötigt. Die Selbstverlangsamung bleibt unbemerkt, bis die Dynamik zum Erliegen kommt.
Dynamik28 lässt sich selten verhindern, nur verlagern, wenn sie in der Selbstbeschleunigungsphase ist. Der Fokus der Interventionen12 auf den steilsten Punkt ist ungünstig. Wir wenden dann die meisten Mittel auf, wenn es eigentlich zu spät ist – und könnten dann noch der verheerenden Täuschung einer Wirksamkeit erliegen, wenn die Selbstverlangsamung tatsächlich später eintritt. Während der Flut ist es sinnlos, Dämme zu bauen.
Gewiss erkennt der Leser hier schon eine Minderheitenmeinung38 zur Pandemie8, aber die Analogie geht weiter und gilt auch anderen Interventionen12, etwa jenen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise17.
Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 2, 6, 18, 21, 28, 39, 50, 55
12. Wären wir ohne politische Interventionen nicht in die Katastrophe gerutscht?
Auf der einen Seite sollten Interventionen wie verordneter Hausarrest in weiten Teilen Europas Menschenleben retten, auf der anderen Seite sollten Interventionen wie Überbrückungsliquidität die Wirtschaft retten. Zumal die Pandemie8 noch nicht mit Gewissheit bewertet werden kann, sei hinsichtlich des ersten Ziels nur leiser Zweifel angemeldet: Die Härte der Interventionen wird wohl eher mit höherer Sterblichkeit korrelieren. Bei einer Ansteckungsdynamik vor allem in Innenräumen ist das behördliche Leeren der Straßen wohl kontraproduktiv gewesen, und die Leerung der Krankenhäuser für den erwarteten Ansturm von Pandemieopfern hatte klarerweise dramatische Nebenfolgen durch drastisch reduzierte Gesundheitsversorgung.
Die gewonnene Zeit wurde von der Politik vorwiegend zur Inszenierung genutzt. Das politische System scheint keine Spur lernfähiger geworden zu sein. Doch Wutbürger, die den schwarzen Peter nun allein den Regierungen zuschreiben, sollte man nicht für ihre Minderheitenmeinung38 loben, sondern als Teil jener unproduktiven Spinner tadeln, deren Freiheit zu spinnen zwar sakrosankt sein muss, aber individuell nicht heroisiert werden darf. Immerhin haben die meisten Privatleute die Zeit der größten Ungewissheit als Corona-Ferien konsumiert oder als Vorwand genutzt, im Job weniger zu leisten. Eine Gesellschaft, die von sorgloser Ignoranz in kopflose Panik verfallen ist, sollte nach einem völlig unverdienten Popularitätshoch für die machthabenden