Die große Geldentwertung. Adam Baratta
Notenbank-Liquidität reagiert. Was für die Wirtschaft oft eine schlechte Nachricht war, war für die Wall Street eine gute. Die Geldwechsler stellten fest, dass die Fed umso mehr Bonbons verteilte, je schlechter die tatsächlichen Zahlen waren. Je mehr »leichtes Geld« es gab, desto größer war der Zuckerrausch und desto höher kletterten die Kurse. Jeder, der diese Wahrheit anzweifelt, muss nur die Bilanz der Zentralbank betrachten. Seit 2009 stiegen die Aktien jedes Mal, wenn die Fed ihre Bilanz ausweitete. Jedes Mal, wenn sie ihre Bilanz kürzte, stürzten die Aktien ab. In dieser Zeit wurde der Ausspruch »Don't fight the Fed«, »Kämpfe nicht gegen die Notenbank«, einst ein Geheimnis von Wall-Street-Insidern, zu einer beliebten Anlagestrategie für Kleinanleger.
Diesmal war es jedoch anders. Unmittelbar nach der Notfall-Zinssenkung durch die Fed begann die Wirtschaft zu krampfen. Jedem, der erwartete, dass die Märkte nach der Ankündigung der niedrigeren Zinssätze steigen würden, wurde auf brutale Art klar gemacht, dass das Spiel vorbei war. Die Zinssenkung half nicht dabei, die Märkte zu beruhigen. Stattdessen fielen die Wertpapiermärkte wie ein Stein. Das nächste planmäßige Treffen der Fed war erst für zwei Wochen später angesetzt, was bedeutete, dass die Märkte auf mehr Zucker wohl noch warten mussten. Diejenigen, die glaubten, dass die zugrunde liegende Wirtschaft stark wäre, wurden von der Geschwindigkeit des Ausverkaufs überrascht. Diejenigen, die sich der massiven Schuldenblase bewusst waren, auf denen die Wirtschaft beruhte, stellten sich sofort auf eine Baisse ein. Sie wussten, dass die Märkte noch viel, viel weiter fallen konnten.
Der Begriff Liquidität bedeutet in Bezug auf Wertpapiere, dass es bei einer Transaktion sowohl Käufer als auch Verkäufer auf der jeweiligen Seite gibt. Wenn es mehr Käufer als Verkäufer gibt, steigt der Wert der Papiere; wenn es mehr Verkäufer als Käufer gibt, fällt der Wert. Wenn alle verkaufen und keiner kauft, nennt man das eine Liquiditätskrise. Als die Märkte in den Tagen nach der Notfall-Zinssenkung der Fed abstürzten, trockneten die Kreditmärkte komplett aus. Die Spanne zwischen dem Geld- und dem Briefkurs von Wertpapieren wurde erheblich größer. Der Mangel an Liquidität bedeutete höhere Volatilität. Der VIX, ein Index, der die Volatilität misst und einen Großteil der vorangegangenen fünf Jahren um die 15 Punkte herum geschwankt hatte, stieg auf 82 Punkte. Der abrupte Anstieg ruinierte zahlreiche Hedgefonds, die den Volatilitätsindex leer verkauft und dabei massive Hebelwirkung eingesetzt hatten. Innerhalb weniger Tage fiel der Aktienmarkt um mehr als 20 Prozent, der schnellste Absturz in einen Bärenmarkt, den die Börse je erlebt hat. Die Abwärtsbewegung beendete eine elf Jahre andauernde Hausse, die der längste Bullenmarkt der Geschichte war. Märkte, die noch ein paar Wochen zuvor gebrummt hatten, stürzten ab. Weitere Notmaßnahmen wurden erforderlich, und zwar vor dem nächsten geplanten Treffen der Notenbank.
Was buchstäblich Öl ins Feuer der Liquiditätskrise goss, war die gleichzeitig stattfindende Entwicklung an den Ölmärkten. Zwischen den ehemaligen OPEC-Partnern Russland und Saudi-Arabien war ein Feiglingsspiel in Form eines Preiskriegs ausgebrochen. Statt sich auf eine Senkung der Fördermengen zu einigen – ein Standardinstrument der Preispolitik des Ölkartells bei einem Nachfrageschock –, beschlossen die Saudis, die Produktion zu erhöhen, und überschwemmten den Weltölmarkt mit ihrem Angebot. Innerhalb von einer Woche fielen die Ölpreise um 50 Prozent von 44 Dollar auf 22 Dollar pro Barrel. Die Saudis steigerten ihre tägliche Fördermenge von zehn Millionen auf fast 13 Millionen Barrel pro Tag. Dieser Anstieg des Angebots trat genau in dem Augenblick ein, als die gesamte Reisebranche weltweit zusammenbrach. Dieses Zusammentreffen bedeutete einen furchtbaren Schock, sowohl für das Angebot als auch für die Nachfrage. Der Kollaps des Ölpreises übte weiteren Druck auf die globalen Wertpapiermärkte aus. Verschwörungstheoretiker fragten sich, ob es sich bei diesem Ölpreiskrieg nicht um einen verdeckten Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Vereinigten Staaten handelte.
Egal, was der wirkliche Grund beim Öl war – es war klar, dass die Notenbank mit viel aggressiveren Mitteln eingreifen musste. Eine zweite Notfall-Pressekonferenz fand am Sonntag, den 15. März statt und wurde absichtlich abgehalten, bevor die Vormärkte öffneten. In einer Live-Konferenzschaltung gab ein nervöser Jerome Powell bekannt, dass die Federal Reserve die Zinssätze offiziell auf null Prozent gesenkt hatte. Außerdem kündigte er an, dass die Fed verschiedene andere Maßnahmen ergriffen habe, um zu gewährleisten, dass die Kreditmärkte weiterhin funktionieren würden. Powell beharrte weiterhin darauf, dass diese Aktionen dazu dienten, die Wirtschaft stark »zu halten«.
Die Maßnahmen widersprachen der Rhetorik einer starken und gut funktionierenden Wirtschaft. Im Verlauf mehrerer Pressekonferenzen und weiterer Verlautbarungen der Fed nach ihrer ersten Notfallaktion am 3. März entzündete die Fed eine Liquiditätsbazooka. Neben der Senkung der Zinssätze auf null kündigte sie an, auch den Ankauf von Vermögenswerten wie zu Zeiten der Krise von 2008 wiederaufzunehmen. Sie bot Dollar-Swap-Vereinbarungen und lockerte Bankenregeln, um die Kreditvergabe zu fördern. Sie kündigte den Kauf länger laufender Staatsanleihen und Rückkaufprogramme mit einer Gesamtsumme von mehr als einer Billion Dollar an, um einer Situation zu begegnen, die als »äußerst ungewöhnliche Störungen des Markts für Staatsanleihen im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Coronavirus« erachtet wurden.
Die Schritte trugen nicht dazu bei, dem Markt zu helfen. Sie führten vielmehr weiter zum Kollaps, weil die Investoren sich fragten, was die Fed wohl sah, was sie nicht sahen.
Die extremen Maßnahmen signalisierten der Wall Street ein viel tiefer gehendes Problem. Am folgenden Tag erlitt der Aktienmarkt seinen größten Tageseinbruch seit dem Crash vom Schwarzen Montag im Jahr 1987 und fiel in einer einzigen Sitzung um zwölf Prozent.
Bis zum 23. März war der Dow Jones von seinen Höchstständen nur sechs Wochen zuvor um 37 Prozent gefallen. Laut Bloomberg vernichtete der Zusammenbruch 26 Billionen Dollar in den Wertpapiermärkten seit ihren Höchstständen im Februar, ein drei Mal so hoher Verlust an Vermögenswerten wie während der Immobilienkrise im Jahr 2008. Trotz der Beteuerungen der Regierung und der Fernsehmoderatoren verkauften die Anleger zuerst und stellten danach Fragen. Als die Investoren aus dem Markt flohen, verstopften die Rohrleitungen des gesamten Systems.
Die Aktienbörsen haben »Notschalter«, die dazu gedacht sind, das Ausbluten bei einem Ausverkauf zu stoppen. Der Vorgang wird Limit down genannt, und sobald der Markt im regulären Handel um sieben Prozent oder mehr oder im nachbörslichen Handel um fünf Prozent fällt, wird der Handel für 15 Minuten angehalten. Dieser Kollaps-Schutzmechanismus wurde nach dem Schwarzen Montag 1987 eingeführt, als die Aktien an einem einzigen Tag um 27 Prozent abstürzten. Er wurde eingerichtet, um durch Massenhysterie verursachte Verkäufe zu verhindern. Seit der Einführung kam es im aktiven Handel nur zwei Mal innerhalb von 33 Jahren zu einem »Limit down« an den Märkten. In den zwei Wochen, die auf die erste Notfall-Zinssenkung der Fed folgten, kam es zu derart heftigen Aktienverkäufen, dass der Markt sowohl im regulären als auch im Übernachthandel fünf Mal dicht gemacht wurde – ein absoluter Rekord. Das Gemetzel war so blutig, dass selbst sichere Häfen wie Gold verkauft wurden, weil die Anleger nicht schnell genug aussteigen konnten und zu jedem Geldkurs liquidierten.
Der gewaltige Kollaps kennzeichnete die schnellste Bärenmarktrallye in der Geschichte des US-Aktienmarkts. Leider waren die Nachrichten von der übrigen globalen Wirtschaft genauso schlecht. Italien und Frankreich, die schon wirtschaftliche Rezessionen erlitten hatten, verhängten im Bemühen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, einen landesweiten Lockdown. Die Aktienmärkte rund um den Globus stürzten gleichzeitig ab. Zentralbanker von Australien über Japan bis hin zur Europäischen Union hielten Eilpressekonferenzen ab und alle kürzten die bereits auf Rekordtief befindlichen Zinssätze noch weiter, sogar bis hinein in den negativen Bereich. Alle versprachen einmütig, jedes nur mögliche zur Verfügung stehende »Instrument« einzusetzen, um den wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwenden. Sie baten um fiskalpolitische Unterstützung durch die Regierungen in Form von Steuersenkungen und Konjunkturpaketen.
Am Dienstag, den 17. März kündigte Präsident Donald Trump gemeinsam mit seinem Finanzminister Steve Mnuchin Pläne für Konjunkturpakete in Höhe von über einer Billion Dollar an. Das Finanzministerium machte klar, dass man außerdem darauf vorbereitet sei, alle Register zu ziehen. In ihren Pressekonferenzen mahnten sie Maßnahmen an, die extremer waren als alles, was bis dato je in Erwägung