Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli


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oder Motorengeknatter auf die Gasse dringt, wenn Albert Zipsin wieder einmal einen uralten Puch Velux zum Laufen bringen will, und das sich doch so sehr von dem Leben unterscheidet, das sich in den angesagten Lokalen, in den Clubs und Bars oder in den trendigen Modeboutiquen in der Fußgängerzone abspielt. Ich liebe diese Biosphäre, die ohne großen Aufwand so viel Abenteuer ausstrahlt und die Fantasie über alle Maßen anregt. Und ich liebe Albert Zipsin, diesen Mann, der auf mich schon damals alt, gütig und weise wirkte, der stets einen dunkelblauen, schmutzig-öligen Overall trägt und mir, dem fremden Jungen aus dem Außenquartier, schon früh das Du anbot, ohne nach dessen Name und Herkunft zu fragen.

      Ich bin glücklich an diesem Ort. Albert strahlt etwas Spitzbubenhaftes, zugleich etwas Väterliches aus und ist auf eine besondere Art verschroben. Eigenschaften, die ich sowohl an meinem Erzeuger wie auch an Opa stets vermisst habe. Schon als Kind fühlte ich mich zu Albert hingezogen, besuchte ihn nach der Schule in seiner Werkstatt, wo ich mich auf einen abgewetzten Schemel setzte und dem Meister eine Stunde lang mehr oder weniger stumm bei der Arbeit zuschaute. Dann plötzlich schoss ich vom Stuhl hoch und verließ mit einem knappen Gruß die Bude, um eventuell schon am nächsten Tag wieder vor Alberts Tür zu stehen. Er ließ mich gewähren, bot mir Einlass und begann seinem sonst scheuen und wortkargen Gast Geschichten aus seinem Leben zu erzählen. Und er begann mich, diesen kleinen und spindeldürren Sonderling, zu mögen.

      Eines Tages, als ich wieder einmal in der Werkstatt saß und Albert stumm Gesellschaft leistete, durchfuhr es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel und er erkannte die Geistesverwandtschaft, die ihn und mich auf eine eigenartige Weise wie eine unsichtbare Kordel verband. Erneut durchzuckte ihn die Erkenntnis, wie sehr ich ihn an seine eigene Kindheit erinnerte. Wurde er als Kleinwüchsiger nicht ebenso von seinen Klassenkameraden gepiesackt? Als Einzelkind eines alkoholkranken Zeughausangestellten und einer durchgeknallten Psychiatriepflegerin ist er in eher zweifelhaften Verhältnissen aufgewachsen. Bereits mit zwölf Jahren erstmals ausgebüxt, mit fünfzehn definitiv abgehauen, um drei Monate später ausgehungert und schlotternd vor Kälte zurückzukehren – aber nicht heim zu seinen Alten, sondern ohne Umschweife und ganz freiwillig meldete er sich in der kantonalen Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche und bat dort um Aufnahme. Diese wurde ihm letztlich auch gewährt und er blieb dort, bis er seine Volljährigkeit erreicht hatte. Wen wundert’s, hatte er denselben schweren Stand und musste sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchboxen beziehungsweise, unter Anwendung mancherlei Tricks, seinen Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Jedoch erst seine späte Abnabelung, beziehungsweise sein Ausbrechen aus dem Milieu, brachte ihm die so sehr erhoffte Anerkennung und verhalf ihm zu mehr Selbstvertrauen. Das geschah, als er den endgültigen Beschluss fasste, nach dem Abschluss einer Grundausbildung zum Landmaschinenmechaniker als Tramper die Welt auf eigene Faust, ohne finanziellen Rückhalt zu erkunden. Seine beeindruckenden Reiseerlebnisse hat Albert in zahlreichen Tagebuchnotizen festgehalten. Die außergewöhnlichsten Abenteuer beabsichtige er in Buchform zu veröffentlichen, hatte er mir versichert. Noch arbeite er daran.

      Diese Story und vieles mehr über sich und sein Leben hat Albert mir später nach und nach erzählt. So begann eine zarte Freundschaft heranzuwachsen.

      „Ich geh an den Fluss, noch ne Runde schwimmen. Willst du mitkommen? Du kannst die Enten füttern, wenn du möchtest. Ich habe etwas altes Brot dabei“, sagte Albert, der mir einfach einmal etwas Neues zeigen wollte.

      „Au ja! Das wäre schön“, entgegnete ich und sprang auf.

      „Also los, du kannst auf dem Sozius meiner Maschine Platz nehmen. Ich kenne da ein Strandbad, dort gibt es die besten Bratwürste weit und breit.“

      Schon seit geraumer Zeit betrachtete Albert meine magere Gestalt und offenbar bemitleidete er mich deswegen.

      „Du kannst ja deiner Mutter immer noch sagen, du hättest in der Schule nachsitzen müssen.“ Er fügte diese Floskel, spitzbübisch grinsend, meistens noch an, obwohl meine Alten längst wussten, wo ich mich nach Schulschluss herumtrieb, waren sie doch gelegentlich Kunden bei Albert Zipsin, wenn sie hin und wieder für mich ein Kinderfahrrad brauchten oder dieses einer Reparatur unterzogen werden musste.

      Albert, der selbst nie Nachwuchs gezeugt hatte – zumindest nie wissentlich –, setzte sich einen alten schwarzen Militärhelm auf den Kopf und bei mir improvisierte er, indem er mir einen Fahrradhelm verpasste. Dann traten wir vor die Werkstatt, wo Albert auf der Gasse mit dem Kopfsteinpflaster sein Motorrad, eine alte, aber wunderschön gepflegte Kreidler, die immer noch den originalen, dunkel-olivgrünen Militärlack trug, abgestellt hatte. Albert gab mir ein paar Anweisungen, dann fuhren wir die Straße entlang, in gemächlichem Tempo davon. Nach wenigen Minuten verließen wir „Downtown“ und gelangten an den Fluss. Damals war ich noch Nichtschwimmer. Ich hielt mich im Uferbereich auf und warf das auf den Steinen zertrampelte Brot ins Wasser. Albert zog seine Badeshorts an, stürzte sich ins erfrischende Nass und schwamm ein paar Züge. Anschließend gönnten wir uns die verheißene Wurst und ein großes Bier respektive für mich eine Limo.

      „Weißt du, man muss die schönen Sommerabende genießen. Man weiß nie, wann das Wetter wieder umschlägt“, sinnierte Albert und ich nickte zustimmend, als gäbe es etwas, das dagegen spräche. Eine belanglose, ja eigentlich völlig überflüssige Bemerkung, denn ich wäre Albert sowieso durch den ärgsten Regenschauer gefolgt.

      Diese spontanen Ausflüge in die nähere Umgebung begannen sich zu mehren und meine Alten forderten Albert Zipsin auf, endlich die Fahrten mit dem Motorrad sowie die Mahlzeiten und Getränke in Rechnung zu stellen, anstatt zu hinterfragen, warum ich mich immer mehr von ihnen abwandte und meine Freizeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit diesem altertümlichen Mechaniker verbrachte.

      Etwa ab meinem zwölften Lebensjahr nahm mich Albert auch auf ausgedehnte Motorradtouren mit. Zum Beispiel an den Bodensee oder in den nahen Schwarzwald. Doch ein kleiner, eher unscheinbarer Ausflug bleibt für mich stets in bester Erinnerung. Er fand im Hochsommer statt, in jenem Jahr, als ich fünfzehn war.

      Ein herrlicher Freitagnachmittag neigte sich dem Ende zu. Nach Schulschluss bummelte ich wie so oft durch die Stadt und blieb letztlich vor Alberts Geschäft hängen. Es dauerte nicht lange, da wurde ich hereingerufen. Albert hatte gerade nicht viel zu tun und schmiss aussortierten Schrott in eine Mulde, die im Hinterhof stand. Es war ihm anzusehen, dass er nicht sehr motiviert bei der Sache war.

      „Hast du Lust auf einen Ausflug?“, fragte er mich kurz entschlossen.

      „Warum nicht?“, meinte ich und zuckte die Schultern.

      „Na, dann mal los. Ich packe nur noch schnell ein paar Sachen zusammen. Du kannst dir schon mal den Helm aufsetzen.“ Albert hatte eigens für mich einen weiteren Helm organisiert – ein olivgrünes Ding, ebenfalls aus alten Militärbeständen, das bereits deutliche Kampfspuren abbekommen hatte.

      Er verschwand in seiner Wohnung und kam wenige Minuten später mit einem alten, aber nach wie vor soliden Militärrucksack wieder, in dem er Tourenproviant und ein paar weitere nützliche Dinge verstaut hatte. Tja, damals war Albert ein gern gesehener Stammkunde des Armyshops.

      „Wir legen bei dir zu Hause noch kurz einen Zwischenhalt ein. Dann besorgst du dir einen Schlafsack, eine Taschenlampe und wenn du willst, etwas zum Knabbern und zu trinken. Ach … und sag deiner Mutter, dass du über Nacht wegbleibst. Sonst macht sie sich unnötige Sorgen.“

      „Nö, ich glaub eher, dass meine Abwesenheit gar niemand bemerken würde“, sagte ich und zuckte ein weiteres Mal die Schulter. Trotzdem hielten wir zu Hause nochmals an. Ich packte eiligst ein paar Sachen zusammen und rief, bereits unter der Tür stehend: „Tschüss, bis morgen!“, in den Flur hinein.

      Etwas später brausten wir zur Stadt hinaus, übers Land, wo der Weizen hoch und die Reben an den Südhängen satt und schwer standen. Es war ein wunderschöner Nachmittag Anfang August und eine ebensolche Nacht kündete sich an. Ich erinnere mich noch gut an den klaren Vollmond, der in gemächlichem Bogen über den schwarzen Himmel zog und dabei sein Licht wie geschmolzenes Silber über die Landschaft ergoss.

      Kurz vor der Landesgrenze verließ Albert die Landstraße und bog auf einen mit Kalksteinschotter bedeckten Waldweg ein. Beim erstbesten Wanderparkplatz am Fuße eines


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