Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli


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Etage. Ich begab mich zum Stationsbüro und fragte nach Dennis’ Zimmernummer. Eine überaus freundliche Krankenschwester erklärte mir, dass er soeben zurechtgemacht werde, um erstmals wieder das Bett zu verlassen. Er sei aber noch sehr geschwächt und wegen der vielen Schmerzmittel befinde er sich oft in einem Dämmerzustand, weshalb größere Kommunikationen vorerst nicht zu erwarten seien. Über einen Besuch aber werde er sich bestimmt freuen.

      Sie wies mich an, in einer Besucherecke Platz zu nehmen und zu warten, man werde Dennis im Rollstuhl dorthin bringen. Die bequemen Polstersessel entschädigten für die längere Wartezeit. Ich warf ein paar Münzen in einen Getränkeautomaten und ließ eine Flasche Cola heraus.

      Dann endlich wurde weit hinten im Flur eine Tür geöffnet und ein junger Pfleger rollte einen Patienten heraus, der mit dem bekannten Dennis, dem Emo-Boy, kaum noch Ähnlichkeiten hatte. Okay, ich bin schon ziemlich erschrocken und schluckte zuerst einmal leer, versuchte jedoch mir weiter nichts anmerken zu lassen.

      „So, da wären wir!“, sagte der Pfleger, stellte den Rollstuhl vor mich hin und fixierte das Bremspedal. „Ich lass euch jetzt allein. Wenn ihr was braucht … ich bin im Stationsbüro.“ Damit verschwand er mit federnden Schritten.

      Um Dennis’ ohnehin schmächtigen Körper, der jetzt noch dünner und zerbrechlicher geworden schien, schlotterte ein nun viel zu groß wirkender Pyjama, der aber immerhin etwas Farbe ins Bild brachte. Da, wo früher eine wunderbare schwarze Mähne den Kopf zierte, war alles kahl geschoren. Stattdessen trug er einen dicken, einem Turban ähnlichen Verband, die Nase verschwand ebenfalls unter einer dicken Lage Mull und ein dunkelblau verfärbtes Auge war gänzlich zugeschwollen. Seine Unterarme ruhten kraftlos auf den seitlichen Armlehnen. Im rechten steckte die Nadel mit zwei Infusionsschläuchen dran, denn ich begriff, dass er mit seinem malträtierten Gesicht kaum in der Lage war, feste Nahrung zu sich zu nehmen.

      „Hi, Dennis, wie geht’s?“, fragte ich ziemlich doof, aber es half wenigstens, die erdrückende Stille im Raum zu beenden.

      Er sah mich eine Weile lang mit seinem heilen Auge an, dann bewegten sich zaghaft seine Lippen und er hauchte ein mattes „Beschissen!“ hervor.

      In dem Moment hätte ich vor Freude aufspringen und ihn umarmen können. Denn er hatte mich verstanden und den Umständen entsprechend korrekt geantwortet.

      „Hast du Schmerzen?“, fragte ich weiter.

      Ein tiefer Atemzug ließ seine schmale Brust erbeben, dann versuchte er mit einer sachten Kopfbewegung ein „Nein“ anzudeuten.

      „Du bist ein Schwindler!“, sagte ich, denn man sah ihm an, dass er sehr wohl noch starke Schmerzen hatte. Tatsächlich dauerte es noch sehr lange, bis sie gänzlich verschwunden waren und er seine Feinmotorik wieder einigermaßen in den Griff bekam.

      Aus reiner Verlegenheit versuchte ich Dennis mit albernen Sprüchen aufzuheitern, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob sie bei ihm auf dem richtigen Ohr gelandet waren. Jedenfalls gelang es ihm kaum, so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Dennoch war ich froh, auf diese Weise wenigstens ein paar langatmige Minuten totgeschlagen zu haben, und ich setzte meinen Monolog fort, indem ich Dennis die aktuellsten News aus unserer Schule erzählte. Dann wagte ich einen neuen Versuch und fragte einfach so, um die Situation auszuloten: „Kennst du die Typen, die dich so zugerichtet haben?“

      Dennis schien nachzudenken. Jedoch gelang es ihm nicht, sich auf Namen zu konzentrieren. Wieder versuchte er es vorsichtig mit Kopfschütteln. Plötzlich perlten aus seinem gesunden Auge dicke Tränen.

      Ich weiß: Es ist verdammt uncool, aber in diesem Augenblick rollten auch mir einige Tränen die Wangen runter. Ich konnte einfach nicht anders. Ich beugte mich vor und umarmte Dennis so sanft wie nur möglich.

      „Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen konnte“, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. „Weißt du, du fehlst mir. Ich vermisse dich. Du warst immer so ein cooler und dennoch aufgestellter Typ. Du fehlst uns in der Klasse. Irgendwie ist es einfach nicht mehr so wie früher – so ohne dich.“ Wir schwiegen uns eine Weile lang an, dann versuchte ich mit zittriger Stimme zu erklären: „Weißt du, damals auf dem Schulhof, irgendetwas ist auch in mir kaputtgegangen.“ Und nach einer längeren Pause ergänzte ich, baren Optimismus versprühend: „Ich verspreche dir: Ich werde dafür sorgen, dass die Kerle ihre gerechte Strafe bekommen!“ Obwohl ich natürlich keine Ahnung hatte, wie ich dieses Versprechen einlösen könnte.

      Ich erhob mich und bereitete mich für den Abgang vor. Beim Hinausgehen drehte ich mich nochmals um und erklärte Dennis den Tarif: „Nächstes Mal, wenn ich wiederkomme, bist du diese verdammten Schläuche los! Dann bring ich dir einen schönen großen Cheeseburger mit viel Bratspeck und einen als Mineralwasser getarnten Wodka-Redbull. Hast du kapiert?“

      Tatsächlich brachte er es fertig, seinen Mund zu einem schiefen Grinsen zu verziehen, und nickte einmal vorsichtig mit dem Kopf.

      Noch auf dem Heimweg dämmerte es mir: Um aus diesem Schlamassel auszubrechen, musste ich etwas ändern, ohne genau zu wissen was. Aber eines war mir klar: Ich musste es sofort tun, und zwar allein. Ich beschloss, meinen Alten nichts zu sagen. Die sind sowieso mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Jedoch, da gibt es diesen Karl Bollinger, der im Allgemeinen Charly genannt wird, und dessen Vater, Ruedi, in der Altstadt in einem heruntergekommenen Gewerbehaus eine Muckibude betreibt.

      Charly und ich sind seit dem ersten Schuljahr befreundet. Er zeigte bald einmal so etwas wie Erbarmen mit mir und nahm mich eines Abends nach Schulschluss mit in den Kraftraum und sein Vater willigte ein – nicht gerade mit Begeisterung –, mich in Begleitung seines Sohnes gratis trainieren zu lassen. Den Kosten für ein weiteres Fitnessabo hätten meine Alten sowieso nicht noch einmal zugesprochen.

      Von nun an begab ich mich mehrmals wöchentlich ins Krafttraining und stellte bewusst auf eine kalorienreiche Ernährung um, mit vielen Pastagerichten, Käse, Milch und Eiern. Ich schuftete und rackerte mich bis zum Umfallen ab, stemmte Gewichte, trainierte Liegestütze und Sit-ups. Und tatsächlich, nach ein paar Monaten zeichnete sich die Umwandlung schon deutlich ab. Aus der spindeldürren Bohnenstange begann so etwas wie ein gestählter Jüngling heranzuwachsen, jedenfalls entsprach das der Ansicht meiner Alten – deshalb glaube ich nicht, dass ich mir das nur eingebildet habe, und ich schwöre: Ich habe nicht mit chemischen Aufbaupräparaten nachgeholfen!

      Mit den zunehmenden Muskelmassen wuchs – wenn auch in geringerem Maße – mein lädiertes Selbstvertrauen. Trotzdem blieben die in der Kindheit erlittenen Demütigungen in meiner Seele eingeätzt. Auch wenn die Narben mit der Zeit etwas weichere Konturen erhielten, so blieben immer noch Kratzer zurück, vergleichbar mit jenen auf alten Vinyl-Platten. Vergeblich versuchte ich diese Dämonen der Vergangenheit zu verdrängen, es gelang mir nie vollständig. Immer wieder stießen sie aus dem Hinterhalt vor und piesackten mich und ich konnte nicht anders, als mit Zorn zu reagieren.

      Und dann kam dieser beschissene Tag X. Der erste, der mit einem Albtraum begann: Ich stehe am Flussufer. Irgendwo, mit viel Wald herum. Keine Menschen. Ich bin allein; und halbnackt, nur mit meiner Badehose bekleidet. Die Luft ist warm und ich weiß, dass ich mich zum Schwimmen vorbereitet habe. Aber ich stehe nur zögernd da und beobachte das andere Ufer. Unter meinen Füßen fühle ich feuchten Kies. Ganz deutlich sticht mir der Geruch faulender Algen in die Nase. Ich zögere immer noch, schaue über die gemächlich dahintreibende Wasserfläche. Dann raffe ich mich auf und wage die nächsten Schritte. Ich fühle, wie kühles Wasser an meinen Beinen leckt.

      Ich lasse mich hineingleiten und werde sogleich von der Strömung weggetragen. Das Schwimmen ist angenehm. An nichts denken müssen. Sich treiben lassen. Die Freiheit spüren. Ich betrachte weiterhin die von Wäldern gesäumten Ufer, denn etwas anderes gibt es nicht, das die Aufmerksamkeit auf sich hätte lenken können. Nur endloses Grün, das beinahe lautlos vorüberzieht. Und doch, da ist etwas Fremdes, etwas Außergewöhnliches. Ich brauche eine Weile, bis mir klar wird, was es ist. Ein herrlicher Tag, mitten im Hochsommer, und ich bin ganz allein! Wo sind all die Boote, die Schwimmer, die Ausflügler an den Grillplätzen?

      Und nun nehme ich auch die Veränderungen wahr, die ich bis anhin verdrängt habe. Fast unmerklich hat sich die Strömung beschleunigt. Die


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