Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli


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zur Decke hin zugemüllt, aber in der Stube einen Zwei-Meter-Flat-Screen-TV mit Dolby-Surround-Soundsystem. Bestimmt alles vom Sozialamt finanziert!“ Ich wusste nicht, ob das wirklich so war. Aber eigentlich interessierte es mich überhaupt nicht.

      Vor wenigen Monaten erreichte offenbar eine Nachricht die Familie und der Vater musste dringend zurück in die Heimat. Angeblich geschäftlich bedingt, hieß es. Man sah ihn nie wieder. Man hat nie erfahren, was ihm zugestoßen ist. Um welche Art von Geschäften es sich handelte, ebenfalls nicht. War der Mann vielleicht in politische Aktivitäten verstrickt? Unterstützte er mit seinen Geschäften möglicherweise irgendeine Widerstandsbewegung? Lauter Fragen, die vielleicht ewig unbeantwortet bleiben werden, aber die Zeit arbeitete für den jungen Fiesling. Eines Tages nahm er die Gunst der Stunde wahr und im kindlichen Alter von knapp dreizehn Jahren riss er das familiäre Zepter endgültig an sich.

      Mit seinen dunklen, kurz geschnittenen Haaren sah er verdammt cool aus und genau so benahm er sich. Er war, so erzählte man sich, irgendwo im Osten geboren und verbrachte seine Kindheit vorwiegend in ländlichen, dünn besiedelten Gebieten. Vermutlich wuchs er zwischen Ochsenkarren und Schafherden auf. Auf jeden Fall schon verdammt nah bei den Dattelklaubern. Nun aber tat er so, als gehörte er bereits zum schweizerischen Landesinventar. Stets hatte er eine unüberhörbar laute Klappe, benahm sich wie ein Macho, begann bereits im zarten Alter von sieben Jahren zu rauchen, betrachtete das Mädchenanbaggern als Fließbandarbeit und drangsalierte bei jeder erdenklichen Gelegenheit seine jüngeren Geschwister, hauptsächlich, um an deren Taschengeld zu gelangen. War damit sein Einstieg in eine Kriminellenlaufbahn vorgezeichnet? Jedenfalls hatte er noch vor dem Eintritt in die Oberstufe damit begonnen, von schwächlichen Mitschülern Schutzgelder zu erpressen.

      Der schmächtige und um ein Jahr jüngere Dennis Brandenberger gehörte bald zu seinen Klienten. Dennis zählte nicht gerade zu meinen Busenkumpels und die Intelligenz schien er auch nicht mit der großen Schöpfkelle verabreicht bekommen zu haben. Trotzdem mochte ich ihn eigentlich schon. Mit seiner scheuen wortkargen Art und seiner zierlichen, schon eher zerbrechlich wirkenden Erscheinung war er mir nie unsympathisch. Er pflegte einen gewissen Stil, den ich an ihm besonders schätzte. Stets trug er schwarze Klamotten, vorzugshalber aus der Gothic-Szene, und setzte Akzente mit pinkfarbenen oder mintgrünen Armreifen, Stirnbändern und Schnürsenkeln. Ein Piercing zierte seine Unterlippe auf der linken Seite. Außerdem trug er eine pechschwarze Ponyfrisur mit einer Haarsträhne, die jeweils sein rechtes Auge vollständig zudeckte – mit dem anderen konnte er sehr einfühlsam ins Weltgeschehen schauen.

      Dennis war eben ein richtiger Emo-Boy. Ich weiß nicht, ob er oft heulte oder sich die Arme ritzte, um sich mit dem selbst zugefügten Schmerz zu bestätigen, dass er noch am Leben war, und ich gehe davon aus, dass die Gerüchte über seine Vorliebe für gleichgesinnte Jungs eher zu den Vorurteilen gehören, die man sich über diese Typen damals so herumerzählte. Indessen weiß ich ganz bestimmt, dass er die Musik von Bullet for my Valentine und Ähnliches mochte, da er das Zeug auf sein Smartphone heruntergeladen hatte.

      Er bewegte sich also in einer Szene – man könnte auch sagen, er lebte in einer eigenen, nach dem Vorbild japanischer Mangas erschaffenen künstlichen Welt, die jeder Erwachsene zwingend meidet, aber auch von jedem Jugendlichen, spätestens mit dem Erreichen des zwanzigsten Lebensjahres, wieder verlassen sein sollte.

      Eigentlich bewunderte ich Dennis für seinen Mut, den er bewies, mit Leib und Seele zu seinem extravaganten Lebensstil zu stehen. Aber vielleicht wurde gerade dieser Stil zu seinem Verhängnis.

      Eines Tages hatte Dennis die Schnauze voll und wollte aus dem „Geschäft“ aussteigen. Schon wegen des täglichen Psychoterrors und weil ihm die finanzielle Belastung über die Ohren wuchs. Dabei kam es zunächst zu einem heftigen Wortwechsel. Ich trat neugierig an den Kreis gaffender Kids heran. Darauf folgte ein Handgemenge und plötzlich eskalierte die Situation. Der Bedrängte stürzte und wurde sogleich vom Häuptling und seinen Kumpanen mit Fußtritten malträtiert.

      Was danach geschah, weiß ich nicht mehr so genau. Rückblickend erscheinen mir die nachfolgenden Szenen irgendwie surreal, so als hätte ich anstatt meiner ein Double in den Kampf geschickt. Jedenfalls sah ich mich damals eher als Beobachter, nicht als Beteiligter. Auch geschah alles blitzartig. Ich hatte gar keine Zeit für irgendwelche Gedanken oder Überlegungen, welche Auswirkungen mein Eingreifen für mich haben würde.

      Irgendwo in meinem Kopf machte es einfach „klick“. Für eine Sekunde ignorierte ich alles, was um mich herum so abging. Ich drängte mich durch die Gaffer und stürzte mich mit voller Wucht auf den Häuptling. Wir fielen beide auf den Asphalt. Ich bemühte mich gar nicht erst, wieder auf die Beine zu kommen, vielmehr kniete ich mit meinem ganzen Körpergewicht auf seiner Brust, meine Hände krallten sich in seinen Hemdkragen. Er blieb für einen Moment völlig überrumpelt auf dem Rücken liegen. Ich schrie ihn an, er und seine Kumpels sollen Dennis gefälligst in Ruhe lassen, und eigentlich wäre ich dermaßen aufgedreht gewesen, dass ich mit meinen bloßen Händen auf sein Gesicht hätte einschlagen können. Vielleicht wäre das auch ganz okay gewesen – oder auch nicht. Schwer zu sagen, im Nachhinein. Jedenfalls habe ich den Häuptling losgelassen und bin aufgestanden, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

      Da erkannte ich aus den Augenwinkeln heraus, aber dennoch deutlich genug, wie einer der Burschen mit seinen schweren Trekkingschuhen dem Gepeinigten ins Gesicht trat, als hätte er einen Fußball vor sich liegen. Für eine Millisekunde schoss ein Blitz durch meine Birne: Den Typen kenne ich doch von irgendwoher! Jedoch konnte ich seine dreckige Visage noch nirgends zuordnen. Noch klaffte in meinem Hirn eine große Erinnerungslücke.

      Ich hörte noch das widerliche Knirschen, als dem am Boden Liegenden das Jochbein zertrümmert wurde. Für einen Augenblick schloss ich die Augen; und als ich sie wieder aufschlug, sah ich überall nur noch Blut, und mittendrin lag regungslos Dennis. Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, dass die Gaffer in alle Richtungen davonstieben. Nur ich blieb wie angewurzelt stehen. Vielleicht, weil ich intuitiv wusste, da geschieht etwas, das nicht richtig ist, weil etwas völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Vielleicht, weil ich ahnte, dass Dennis in diesem Moment jemanden brauchte, der ihm zur Seite steht. Jedenfalls war ich vor Entsetzen unfähig, mich zu rühren.

      Da trat der Häuptling an mich heran und packte mich in Sekundenbruchteilen an der Kehle und drückte zu. Ich starrte mit in Todesangst weit aufgerissenen Augen in das Gesicht des brutalen Fieslings. Dessen Augen strahlten eine Eiseskälte aus, die aller Menschlichkeit entbehrte. Vor meinen Augen begann es bunt zu flimmern und ich roch den schlechten Atem meines Peinigers, als dieser mir mit ebensolch eiskalten Worten drohte: „Ich, an deiner Stelle, würde mir ganz genau überlegen, was ich den Pausenclowns erzählen möchte! Ein falsches Wort und wir werden dich finden, egal wo du dich verkriechst. Verlass dich drauf!“ Mit Pausenclowns meinte er die Lehrer, die zur Aufsicht während der großen Pausen abkommandiert wurden.

      Wie ein Stück Dreck stieß mich der Schurke von sich und rannte weg. Während meine Knie nachgaben und ich zu Boden sank, vernahm ich die aufgeregten und doch irgendwie vertrauten Stimmen einiger Lehrer sowie das Heulen der rasch näher rückenden Ambulanz. Mir gelang es, mich aufzurappeln, dann rannte auch ich weg.

      Ich fühlte mich miserabel. Magensäure drang bis zum Kehlkopf vor und ich zwang mich, sie hinunterzuschlucken, um mich nicht übergeben zu müssen, als ich endlich mein Elternhaus erreichte.

      Wütend trat ich mit dem rechten Fuß gegen das hölzerne Gartentor, das hinten hart an die Hainbuchenhecke schlug, zurückfederte und dabei fast aus den Angeln gehoben wurde. Ich steckte den Schlüssel ins Türschloss und drehte ihn. Der Hauseingang war immer abgeschlossen, auch wenn der Opa zu Hause herumlag. Ich trat ein und rief mein unpersönlichstes „Hallo!“, das möglich war, in den Flur.

      „Guten Abend, Oliver.“ Gertrud, meine Mum, kam aus der Küche. Seit dem Desaster mit Dennis spreche ich meine Mutter nicht mehr mit Mama an. Irgendwo in meinem Kopf machte es abermals „klick“ und ich wusste sofort: Meine Schonzeit war abgelaufen. Nun gehörte auch ich zu den Älteren. Zu den Eingeweihten. Ich wurde in einer gewissen Weise zu einem Teil von ihnen. Willkommen im Club! Auf einen Schlag schoss es mir ins Bewusstsein, dass mein ganzes bisheriges Leben nur aus Kinderkram bestand. Damit war nun definitiv Schluss. Und


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